Die Bücher und das Paradies
heißen, weil bestimmte
Gegenstände zu Lasten anderer hervorgehoben werden.
Aber warum sehen wir dann die Schublade Blooms,
obwohl kein Gegenstand in ihr eine privilegierte Funktion
hat? Ich würde sagen: Nerval will uns sehen lassen, was
die Schublade enthält, während Joyce uns die
Unergründlichkeit der Schublade sehen lassen will. Ich
weiß nicht, ob es dem Leser gelingt, Blooms Schublade
deutlicher vor sich zu sehen als die Dampferanlegestelle
bei Robbe-Grillet, nachdem es in beiden Fällen keine
Relevanzen gibt. Wir könnten jedoch sagen, daß Robbe-
Grillet Objekte zusammenstellt, die von sich aus nicht
überraschend sind, wie eine Hafenmauer, eine Brüstung,
Flächen und Linien, während Joyce lauter inkongruente
Dinge zusammenstellt, die gerade wegen ihrer Inkon-
gruenz überraschend und unerwartet sind. In gewisser
Weise (nehme ich an) macht der Leser entweder ein
ungeregeltes Ensemble relevant, oder er wählt etwas aus
(fixiert womöglich seine Aufmerksamkeit auf die Sand-
uhr), und indem er das tut, kooperiert er mit dem Text und
beteiligt sich an der Konstruktion von Bildern.
9 Dt. von Anjuta Aigner-Dünnwald und Friedhelm Kemp, München, Winkler, 1989, zit. nach der Rowohlt-Ausgabe G. de Nerval, Die Töchter der Flamme , »Rowohlt Jahrhundert« Bd. 81, Reinbek 1991, S. 132.
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4. Akkumulation
Eine weitere Technik (die schon Quintilian in seinem
dritten Beispiel andeutet) ist die erregte Häufung von
Ereignissen. Die Ereignisse müssen entweder inkongruent
oder außergewöhnlich sein. Natürlich kommen hier auch
rhythmische Elemente ins Spiel, und deshalb führt uns die
folgende Hypotypose von Rabelais (aus Gargantua et
Pantagruel I, Kap. 27) die Szene plastisch vor Augen
(während ein bloß auflistendes Verfahren, wie die
köstlich-groteske Liste der couillons in Buch III, Kap. 26
und 28, eher klangliches als visuelles Vergnügen bereitet):
Es uns escarbouilloyt la cervelle, es aultres rompoyt bras et
jambes, es aultres deslochoyt les spondyles du coul, es aultres demoulloyt les reins, avalloyt le nez, poschoyt les yeulx, fendoyt les mandibules, enfonçoyt les dens en la geule, descroulloyt les omoplates, sphaceloyt les greves, desgondoit les ischies,
debezilloit les faucilles. Si quelqu’un se vouloyt cascher entre les sepes plus espès, à icelluy freussoit toute l’areste du douz et l’esrenoit comme un chien. Si aulcun saulver se vouloyt en fuyant, à icelluy faisoyt voler la teste en pieces par la commissure
lambdoide. Si quelq’un gravoyt en une arbre, pensant y estre en seureté, icelluy de son baston empaloyt par le fondement. […] A d’aultres donnant suz la faulte des coustes, leurs subvertissoyt l’estomach, et mouroient subdainement. Es aultres tant fierement frappoyt par le nombril qu’il leurs faisoyt sortir les tripes. Es aultres parmy les couillons persoyt le boiau cullier. Croyez que c’estoyt le plus horrible spectacle qu’on veit onques […] Les ungs mouroient sans parier, les aultres parloient sans mourir. Les ungs mouroient en parlant, les aultres parloient en mourant …
Etlichen zermürst’ er das Hirn, andern zerschmiß er Arm und
Bein, andern versprengt’ er die Wirbel im Hals, andern zer-
matscht’ er die Weichen und Lenden, knickt’ Nasen, bohrt’
Augen, spaltet’ Kiefern, schlug Zähn im Hals entzwei, zerknirscht’
die Schulterblätter, sphaselieret’ die Schienbein, entheftelt’ Hüften, barst Röhren. Wo einer sich unter die dichtesten Rebstöck ver-245
kriechen wollt, zerbleuet’ er ihm den ganzen Rückgrat und schlug ihn platt wie einen Frosch. Wenn einer sich durch die Flucht
salvieren wollt, gab er ihm eins auf die lambdoidische Commissur, daß ihm der Schädel in Stücken sprang. Wenn einer auf einen
Baum stieg und dacht, er wär da sicher, spießt er ihn mit seinem Stock von unten durch den Hintern auf. […] Andern gab ers auf
den Rippen-Schluß, daß ihnen der Magen überschlug, und
plötzlich starben: Andre traf er so grimmig an den Nabel, daß die Kutteln barsten; andern bohrt’ er den Mastdarm durch die Geilen an. Glaubt nur, es war das greulichste Spektakel, so je ersehen ward. […] Etlich starben ohn zu sprechen, andre sprachen ohn zu sterben: Etlich starben sprechend, andre sprachen sterbend.10
5. Beschreibung mit Verweis auf
persönliche Erfahrungen des Adressaten
Diese Technik verlangt vom Adressaten, daß er in den
Diskurs einbringt, was er bereits gesehen und erlitten hat.
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