Die Bücher und das Paradies
Status
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reduzierte Visionen). In einer Vision der filmischen Art
können die vier Lebewesen durchaus rotieren und bald
über dem Thron, bald vor ihm und bald rings um ihn
erscheinen.16
Doch in diesem Sinne konnte der mozarabische
Miniaturenmaler nicht mit dem Text kooperieren, und so
mußte die Hypotypose in seinen Händen und seinem Kopf
(zumindest für dieses Detail) mehr oder minder scheitern.
Erneuter Beweis dafür, daß es keine Hypotypose gibt,
wenn der Adressat nicht mitspielt.
16 Vgl. meinen Aufsatz »Jerusalem and the Temple as Signs in
Medieval Culture«, in G. Manetti (Hg.), Knowledge through Signs , Paris, Brepols, 1996, S. 329 – 344.
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Intertextuelle Ironie und
mehrdimensionale Lektüre1
Ich bitte um Verzeihung, wenn ich in diesem Vortrag
unter den Beispielen auch einige zitieren muß, die aus
meiner Tätigkeit als Erzähler stammen, aber ich möchte
hier einige Charakteristika des sogenannten postmodernen
Erzählens behandeln, die manche Literaturkritiker und
-theoretiker, insbesondere Brian McHale, Linda Hutcheon
und Remo Ceserani2, nicht nur in meinen Romanen
entdeckt, sondern auch in meiner Nachschrift zum › Namen der Rose ‹ theoretisch behandelt gefunden haben. Diese
Charakteristika sind die Selbstbezüglichkeit (auch
Metanarrativität genannt), der Dialogismus (im Sinne von
Bachtin, für den die Texte miteinander sprechen), die
Doppelkodierung und die intertextuelle Ironie.
Obwohl ich noch immer nicht genau weiß, was unter
postmodern zu verstehen ist, muß ich zugeben, daß die
genannten Charakteristika in meinen Romanen zu finden
sind. Aber ich möchte sie zunächst genauer bestimmen
1 Schriftform eines im Februar 1999 an der Scuola Superiore di Lingue Moderne per Interpreti e Traduttori in Forlì gehaltenen Vortrags.
2 Linda Hutcheon, »Eco’s Echoes: Ironizing the (Post)Modern«, in N. Bouchard und V. Pravadelli (Hg.), Umberto Eco’s Alternative , New York, Lang, 1998; Linda Hutcheon, A Poetics of
Postmodernism , London, Routledge, 1988; Brian McHale,
Constructing Postmodernism , London, Routledge, 1992; Remo Ceserani, »Eco’s (post)modernist fiction«, in Bouchard und
Pravadelli, op. cit., S. 148.
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und gegeneinander abgrenzen, da sie nicht selten als vier
Aspekte ein und derselben Strategie verstanden werden.
Selbstbezüglichkeit oder Metanarrativität, ob als Refle-
xion des Textes über sich selbst und seine Wesensart oder
als Einmischung der Stimme des Autors, der sich
Gedanken über das macht, was er erzählt, und womöglich
den Leser auffordert, diese Gedanken zu teilen, ist sehr
viel älter als die sogenannte Postmoderne. Im Grunde
beginnt sie schon mit Homers »Singe mir, Muse …«, und
sie liegt vor, um einen uns näheren Autor zu nehmen,
wenn zum Beispiel Manzoni sich darüber Gedanken
macht, ob er in seinem Roman die Liebe thematisieren
soll. Ich gebe zu, daß die metanarrative Strategie im
modernen Roman deutlicher hervortritt, und mir selbst ist
es untergekommen, daß ich, um die Selbstreflexion des
Textes zu verschärfen, auf das zurückgegriffen habe, was
ich »künstlichen Dialogismus« nennen würde, nämlich die
Einführung einer alten Handschrift, über die der Erzähler
reflektiert und die er, während er erzählt, zu entziffern und
zu beurteilen versucht (aber so ist bekanntlich schon
Manzoni vorgegangen).
Auch der Dialogismus, besonders in seiner offen-
kundigsten Form als Zitatismus , ist keine Erfindung der Postmoderne, weder als Tugend noch als Laster, sonst
hätte Bachtin nicht schon so lange vorher davon sprechen
können. Im 26. Gesang des Purgatorio begegnet Dante
einem Poeten, der »freimütig zu sprechen beginnt«:
Tan m’abellis vostre cortes deman,
Qu’ieu noi me puesc, ni voill a vos cobrire,
leu sui Arnaut, que plor e vau cantan …
Daß dieser Arnaut der provenzalische Troubadour
Arnaut Daniel ist, dürfte der zeitgenössische Leser leicht
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erraten haben, allerdings nur und gerade weil er als einer
eingeführt wird, der Provenzalisch spricht (in Versen, die
zwar von Dante stammen, aber der Tradition der Troubadourdichtung folgen). Leser, die nicht imstande
sind, diese Form des intertextuellen Zitats zu erkennen (ob
moderne oder zeitgenössische), sind vom Verständnis des
Textes ausgeschlossen.
Nun zur sogenannten Doppelkodierung ( double coding ).
Der Ausdruck stammt von Charles Jencks, für den die
postmoderne Architektur auf mindestens zwei
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