Die Buecher und das Paradies
vom Blut verschiedener Völker, rauchig von Schloten und reich an fruchtbaren Feldern, rebellisch gegen die kirchlichen Heucheleien, lärmend von Streiks und von kämpfenden Massen, wurde zu einem umfassenden Symbol für alle Fermente und alle Realitäten der Moderne, ein Gemisch aus Amerika, Rußland und Italien, dazu ein Geschmack von urwüchsigen Ländern - eine ungeordnete Synthese all dessen, was der Faschismus negieren und ausschließen wollte.
Wie konnte es dazu kommen, daß dieses ambivalente Symbol beziehungsweise diese widersprüchliche Kultur eine intellektuelle Generation zu faszinieren vermochte, die in der Zeit des Faschismus aufgewachsen war, als Schule und Propaganda allein die Ruhmestaten der Römer feierten und die sogenannten jüdischen Plutokratien verdammten? Wie konnte es dazu kommen, daß sich die junge Generation in den dreißiger und vierziger Jahren unter- und oberhalb der offiziellen Modelle eine Art Alternativkultur schuf, eine eigene Propagandaströmung gegen die des Regimes? Dieser zweite Tag unseres Symposiums ist dem »Bild der Vereinigten Staaten in der italienischen Erziehung« gewidmet. Versteht man unter Erziehung die offiziellen Lehrpläne der Schulen, so wüßte ich nicht, warum uns das Thema interessieren sollte. Die italienischen Schüler müßten wissen, daß New York an der Ostküste liegt und daß Oklahoma ein Staat ist und nicht nur ein Musical von Roger und Hammerstein. Versteht man unter Erziehung jedoch das, was die Griechen paideia nannten, dann kann unser Unternehmen spannender werden. Paideia ist nicht nur eine Vermittlung von Wissen, sie war das Ensemble der sozialen Techniken, durch welche die Jugendlichen gemäß einem Ideal von menschlicher Bildung in das Erwachsenenleben eingeführt wurden. Die paideia zu verwirklichen hieß, eine reife Person zu werden, ein anthropos kalokagathos, ein schöner und guter Mensch, schön, weil gut, und gut, weil schön. Die Lateiner haben paideia mit humanitas übersetzt, die Deutschen übersetzen sie, glaube ich, mit Bildung, was mehr ist als bloß Kultur.
In der Antike wurde die paideia durch das philosophische Gespräch und die homosexuelle Beziehung vermittelt. In der Neuzeit hat man dafür Schulbücher und Unterrichtsstunden. Aber in unserer neuesten Zeit ist die paideia auch eine Angelegenheit der Massenkommunikation geworden. Nicht nur in dem Sinne, daß auch die Zirkulation der Bücher ein Phänomen der Massenkommunikation ist, sondern auch, weil die Wahl eines persönlichen Leitfadens im chaotischen Angebot der Massenmedien einen wichtigen Schritt zum Erwerb einer eigenen humanitas darstellen kann. Soll heißen, daß Woody Allen etwas mit der paideia zu tun hat, was für John Travolta nicht unbedingt gilt, aber seien wir nicht zu streng. Wenn ich an meine eigene Humanbildung denke, müßte ich auf die Liste meiner geistigen Quellen die Imitatio Christi und No no Nanette, Dostojewski und Donald Duck setzen. Fehlen würden dagegen, zum Beispiel, Nietzsche und Elvis Presley. Ich stimme Joyce zu, daß »music hall, not poetry, is a criticism of life«. Ripeness is all.
Auf dem Hintergrund dieser Idee von Erziehung möchte ich nun in großen Linien die Geschichte von drei Generationen Italienern skizzieren, die sich aus unterschiedlichen historischen und politischen Gründen als irgendwie antiamerikanisch betrachteten oder hätten betrachten müssen; und die sich auf unterschiedliche Weise, allein oder sogar zur Unterstützung ihrer antiamerikanischen Ideologie, einen Mythos Amerika aufgebaut haben.
Der erste Held meiner Geschichte zeichnete seine Artikel in den dreißiger Jahren mit dem Namen Tito Silvio Mursino. Ein Anagramm von Vittorio Mussolini, dem Sohn des Duce. Er gehörte zu einer Gruppe junger Löwen, die fasziniert waren vom Kino, vom Kino als Kunst, als Industrie und als Lebensform. Vittorio begnügte sich nicht damit, der Sohn des Duce zu sein; das hätte genügt, ihm die Gunst vieler Schauspielerinnen zu sichern, doch er wollte mehr: Er wollte Pionier der Amerikanisierung des italienischen Kinos sein.
In seiner Zeitschrift Cinema kritisierte er die europäische Tradition des Kinos und behauptete, das italienische Publikum identifiziere sich gefühlsmäßig nur mit den Archetypen des amerikanischen Kinos. Er sprach vom Kino mit einer gewissen Unschuld als von einem star System, ohne sich um ästhetische Fragen zu kümmern. Er liebte und bewunderte Mary Pickford und Tom Mix, so wie sein Vater Julius Caesar und
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