Die Büro-Alltags-Bibel
ihren Umfragen unter rund 100 Krankenschwestern und -pflegern ermittelt haben will: Der Büroplausch zwischendurch half den Betroffenen, Dampf abzulassen sowie negative Gefühle und Stress schneller abzubauen. Zudem erfüllt das Gerede – auch
buzz
genannt – wichtige soziale Funktionen. Es transportiert zum Beispiel unterschwellig die Werte einer Gruppe. Wenn alle über den knickrigen Chef lästern, der den Schampus zu seiner Geburtstagsfeier nicht aus der eigenen Tasche bezahle, sondern damit sein Spesenkonto belaste, dann sagen sie damit auch etwas über ihr Anstandsempfinden aus. Zugleich stärkt es den Zusammenhalt einer Abteilung. Dahinter steckt nicht selten der Wunsch nach Zugehörigkeit. Oder anders formuliert: Ausgrenzen verbindet. Wer sich einer Mehrheitsmeinung anpasst, ist automatisch Teil derMehrheit – und spart sich obendrein die Mühe, sich selbst eine Meinung zu bilden. Ein simpler Herdentrieb.
Der Mechanismus dahinter ist immer gleich: In dem Maß, wie die Informationsflut steigt, wächst das latente Gefühl, eben doch nicht alles mitbekommen zu haben. Bilanzen kann man fälschen, Pressemitteilungen beschönigen. Aber eine vertrauliche Information, konspirativ überbracht von einem glaubwürdigen Bekannten oder Freund – das überzeugt jeden von uns. Und je größer die Sensation, je höher der Neuigkeitswert, je mehr Menschen der Nachricht aufsitzen und sie weiterverbreiten, desto wahrscheinlicher wird sie für alle Beteiligten. Tatsächlich sind Wiederholungen erheblich einflussreicher als der Wahrheitsgehalt.
Eine These, die zum Beispiel der Psychologe Norbert Schwarz von der Universität Michigan vertritt und sich dabei auf Forschungsarbeiten seiner Kollegen Floyd Allport und Milton Lepkin aus dem Jahr 1945 stützt. Die erkannten schon damals, dass Menschen etwa falscher Kriegspropaganda umso mehr Glauben schenkten, je öfter sie diese vorgesetzt bekamen. Offenbar hören unsere grauen Zellen irgendwann auf, die Quellen eines Gerüchts oder einer Information zu differenzieren. Es macht dann keinen Unterschied mehr, ob wir ein und dieselbe Information von vielen verschiedenen (und glaubwürdigen) Menschen hören oder nur immer wieder von derselben (manipulierten) Quelle. Dummerweise haben wir Menschen die Angewohnheit, Gerüchten sogar dann zu glauben, wenn sie nachweislich falsch sind. Einen erschreckenden Beweis dazu legte der Evolutionsbiologe Ralf Sommerfeld mit einem Experiment am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie vor. Er ließ über 100 Probanden um Geld spielen, wobei die Teilnehmer anfangs die Chance hatten, sichtbar mit anderen zu kooperieren. Jene Mitspieler wurden daraufhin mit einem Geldgeschenk belohnt. So baute sich Runde um Runde für jeden Spieler ein Ruf auf – mit der Folge, dass die Eigenbrötler zunehmend gemieden wurden. Nun streuten die Wissenschaftler gezielt falsche Gerüchte über einige Mitspieler. Und tatsächlich: Obwohl die Probanden mit den Betroffenen persönlich andere Erfahrungen gemacht hatten, glaubten sie dem Gerede mehr. Wer nun als nicht kooperativ verschrien war, fand kaum noch Mitspieler – und umgekehrt. Es ist das Prinzip der urbanen Legenden: Man muss den Leuten denMist nur oft genug einbimsen, dann glauben sie irgendwann, dass es stimmt.
Auch im heutigen Wirtschaftsleben sind Gerüchte ein gern genutztes Mittel, beispielsweise um Wettbewerber zu schwächen oder um sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen. So musste etwa der Bierbrauer Warsteiner in den Neunzigerjahren in einer teuren Kampagne gegen Mutmaßungen ankämpfen, die Brauerei stünde der Scientology-Sekte nahe. Umgekehrt macht sich die Werbebranche heute die Macht des Geredes mit dem sogenannten Viralmarketing zunutze. Dabei werden Konsumenten subtil verleitet, Produktwerbung etwa per E-Mail oder Online-Video im Freundeskreis zu verbreiten – ohne zu ahnen, dass sie längst Teil einer Kampagne geworden sind. Foren, Chaträume, Blogs – sie alle aggregieren und kollektivieren virtuelles Hörensagen zur sogenannten Schwarmintelligenz, der Weisheit der Masse. Oder Massenhysterie.
Leider ist es so: Überall dort, wo vollständige Informationen sowie eigene Erfahrungen fehlen, müssen wir uns auf die Empfehlung Dritter verlassen. Und das ist jedes Mal der Fall, wenn wir einen neuen Menschen kennenlernen. Damit spielt der persönliche Ruf im Alltag eine zunehmend bestimmende Rolle. Wessen Ruf ramponiert ist, der muss oft seinen Hut nehmen, so wie etwa der ehemalige
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