Die Buße - Gardiner, M: Buße - The Liar's Lullaby
Aber ich würde mich über eine faire Gegenleistung freuen.«
»Zum Beispiel?«
»Ihre besonderen Erkenntnisse über Tasias Geisteszustand.«
Bei Jo blinkte ein rotes Warnlicht auf. »Sie bekommen Zugang zu den Informationen, sobald mein Bericht veröffentlicht wird.«
»Ehrlich gesagt, hatte ich mir mehr erhofft.« SFPD.
»Das dachte ich mir schon. Aber ich arbeite für das SFPD. Die Polizei hat Vorrang.«
Das Lächeln wurde breiter. »Kein Klatsch und Tratsch?«
Sie setzte ihrerseits eine geübte Miene auf: neutral. »Geht leider nicht.«
Hinter ihr öffnete sich die Eingangstür. Ein Mann in blauem Blazer streckte ihr die Hand entgegen. »Dr. Beckett? Ich bin der Hausverwalter.«
Jo trat in den Flur. Chennault folgte.
Sie drehte sich zu ihm um. »Entschuldigen Sie mich bitte.«
Betont ungezwungen zuckte er die Achseln. »War schon öfter hier. Hab mindestens fünfmal im Gästezimmer übernachtet.«
»Mag sein, aber im Moment hab nur ich die Genehmigung der Polizei, das Haus zu betreten. Tut mir leid, Mr. Chennault.«
Er hob die Hände. »Klar, die Hackordnung geht vor. Ich warte draußen mit dem Hausverwalter, bis Sie mit Ihrem Rundgang fertig sind.«
Jo bedachte ihn mit einem festen, neutralen Lächeln. »Wie wär’s, wenn wir hinterher einen Kaffee trinken?«
Er zog sich zurück. An der Tür legte er die Hände zusammen und verbeugte sich wie ein Thailänder.
Sie schaute ihm nach, wie er die Treppe hinunter zu seinem Wagen ging. Dann wandte sie sich an den Hausverwalter. »Haben Sie ihn schon mal gesehen?«
»Nein, aber ich bin auch nicht oft hier.«
»Ich möchte mich im Haus umschauen. Kann einige Zeit dauern.«
»Ich bin solange im Auto. Muss sowieso noch Anrufe erledigen.«
Jo nahm ihre Digitalkamera heraus und machte sich an die Arbeit. Das Haus war kompakt und elegant eingerichtet. Essen in der Küche: biologische Rucola, eine leere KFC-Box im Müll. Vitamine, Pflanzenpräparate, eine Flasche Stolichnaya auf der Arbeitsplatte.
Sie schlenderte ins Wohnzimmer. Die Fenster zeigten auf einen kleinen Garten, der steil zu einem ganzen Dickicht von Zylinderputzer- und Rhododendronsträuchern anstieg.
Die Polizei hatte das Haus bereits durchsucht und anscheinend keine Spuren eines Verbrechens entdeckt. Jo wollte die Umrisse von Tasias emotionaler Landschaft erkunden. Und vielleicht Hinweise darauf finden, wie sie ihren letzten Tag verbracht hatte.
Zwei große Bücherregale waren wahllos vollgestopft mit paranormalen Liebesromanen, alten Ausgaben von Entertainment Weekly und einem Listeners’ Choice Award in der Sparte Countrymusik.
Zwischen den Schmökern über heiße Werwolfliebe stand auch Gerald Posners Case Closed. Überrascht zog Jo das Buch heraus. Es war ein anerkannter Text, der die Verschwörungstheorien um die Ermordung Kennedys entkräftete.
Wieso interessierte sich Tasia für JFK? Oder für Attentate gegen Präsidenten?
Sie machte ein Foto vom Bücherregal.
Auf dem Flügel stapelten sich Notenblätter. Bestimmt hatte die Polizei sie nach einem Abschiedsbrief durchstöbert. Ohne Ergebnis. Die Blätter waren mit Tasias Kompositionen bedeckt. Die Gesangsnoten bewegten sich im Sopranbereich. Die Texte waren hastig über die Seiten geschmiert, als hätte Tasia nur mühsam Schritt halten können mit der Musik, die aus ihrem Kopf strömte.
Auf dem Pult stand »The Liar’s Lullaby«. Tasia hatte ein komplettes Arrangement für Klavier geschrieben. Ganz oben hatte sie notiert: Allegro. Kontrapunkt/Kanon. Im Bassschlüssel standen die Akkorde dicht gepackt.
Said you wanted me to be your choir
Help you build the funeral pyre.
Unbeholfen spielte Jo das Stück nach. Die Melodie war in Moll, leiernd, repetitiv, traurig. Fast zwanghaft. Nach den Hinweisen auf dem Steinway zu urteilen, war Tasia erfüllt von Verzweiflung und Obsession gewesen.
Sorgfältig fotografierte Jo jedes Blatt. Dann stieg sie hoch ins erste Stockwerk.
In Tasias Schlafzimmer herrschte heilloses Durcheinander. Das Bett war ungemacht, die Kleider lagen auf dem Boden verstreut.
Jo selbst bevorzugte eine funktionale Garderobe. Sie trug schlichte Blusen und gut passende Hosen, in denen sie sowohl professionell auftreten als auch um ihr Leben rennen
konnte. Keine engen Röcke, keine Schals um den Hals. Nichts, was sie davon abhalten konnte, aus dem Fenster zu springen, wenn ein schizophrener Gangsterrapper Stimmen hörte, die ihm befahlen, die Schlampe zu schlitzen, oder ein psychopathischer Strafgefangener auf
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