Die Buße - Gardiner, M: Buße - The Liar's Lullaby
Fenster. »Haben Sie Verwandte? Geschwister?«
»Ja.«
»Und lebt jemand von ihnen wie eine Kristallvase, die über einen Schießplatz rollt?«
Ihr Ton war heftig, aber Jo hörte auch das Brüchige darin.
»Lebt einer von ihnen wie eine Taube, die bei einer Friedensfeier freigesetzt wird und direkt in die ewige Flamme fliegt? Und immer weiterfliegt, während man selbst nicht weiß, ob man das Feuer löschen, sie anfeuern oder den Blick abwenden soll? Jedes Mal dachte ich, jetzt sind die Flammen gelöscht. Aber dieses wunderbare Geschöpf zieht seine Kreise und schwingt sich immer höher. Und ich bin unten mit ausgestreckten Händen rumgelaufen und habe zu Gott gefleht, dass ihre Flügel nicht zerfallen, dass sie nicht wieder Feuer fängt, dass sie nicht abstürzt.«
Vienna presste die Lippen zusammen, um kein Beben in ihrer Stimme zuzulassen. »Gott sei Dank müssen meine Eltern das nicht mehr erleben.« Tränen traten in ihre Augen.
Jo spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. »Es tut mir leid.«
»Bei mir liegen noch einige Sachen von ihr rum. Alles persönlich. Ich sehe keinen Grund, sie der Polizei zu übergeben. Da könnte ich ihr ja gleich im Leichenschauhaus die Decke wegziehen, damit alle starren und deuten.« Grob wischte sie sich die Augen ab. »Aber das tun sie sowieso schon.« Sie setzte sich gerade auf. »Wie arbeiten Sie? Leiten Sie alles an die Polizei weiter? Oder können Sie in Ihrem Bericht auch Informationen auslassen?«
»Ich bin keine Polizeibeamtin, sondern freie Beraterin. Ich erarbeite einen Bericht, der den Behörden zugehen wird. Alle Daten auf diesem Telefon werden also auch den Gerichten
zur Verfügung stehen. Außerdem unterliege ich den gleichen Verpflichtungen wie jeder Bürger, wenn ich Beweismittel in einem Kriminalfall entdecke. Das heißt, ich werde es melden.«
Viennas Gesicht wurde hart. Ihre Augen wirkten zerbrechlich.
»Abgesehen davon«, schloss Jo, »muss ich natürlich nicht jede Kleinigkeit in meinen Bericht aufnehmen.«
Vienna legte die Hand über das Telefon. »Sie verstehen also, worauf es mir ankommt. Ich will meine Schwester schützen.«
»Alles klar.«
»Vor ein paar Jahren war Tasias bipolare Störung außer Kontrolle, und sie hat viele Gefühle und Ängste auf andere projiziert. Vor allem auf Rob.«
Rob, den Oberbefehlshaber.
»In regelmäßigen Abständen hat sie ihrem Zorn über ihn Ausdruck verliehen und das, was er tat, als ›böse‹ bezeichnet.«
»Hatte das was mit ihrer Ehe zu tun?«, fragte Jo.
»Nein. Es gab keine Verbindung zur Realität. Sie hat in hochtrabenden Begriffen davon geredet, dass er eine Bedrohung ist.«
»Für sie persönlich?«
»Für die Nation. Das war, als er noch im Senat saß. Wirklich bewundernswert, dass Sie noch nicht Paranoia schreien.«
»Gab es in der Ehe Misshandlungen oder tätliche Gewalt?«
Vienna schüttelte den Kopf. »Nie. Rob war ein Prinz. Zumindest bis er sich in einen Frosch verwandelt hat. Aber so läuft es nun mal bei einer Scheidung.«
Paranoide Menschen verdrängten das Wissen um eigene Fehler. Sie leugneten ihre eigenen negativen Eigenschaften - Neid, Hass, Aggression - und projizierten sie stattdessen auf andere. Aus diesem Grund sahen sich Paranoiker von Bedrohungen umstellt.
»Hat Tasia geglaubt, dass ihr McFarland schaden wollte?«
»Er nicht. Aber die Regierung. FBI. CIA. Doch ich muss noch mal betonen, dass ihr Zustand außer Kontrolle war.«
»Was ist passiert?«
»Zuerst hat sie Freunde und Verwandte mit manischen Manifesten bombardiert. Mir hat sie ›Kommuniqués‹ geschickt. Und zuletzt hat sie an Robs Senatsbüro geschrieben und die Regierung beschuldigt, ihr nachzustellen. Da hat er mich angerufen.«
»Robert McFarland hat persönlich mit Ihnen telefoniert? Wegen Tasia? Was wollte er?«
»Sie wissen, ich rede nicht über Rob.«
Jo breitete die Hände aus. »Spannen Sie mich nicht auf die Folter. Bitte.«
Vienna zögerte. »Ich möchte nur so viel sagen: Er hätte den Brief ans FBI weitergeben können, doch stattdessen hat er mich angerufen.«
»Er wollte also, dass Tasia Hilfe bekommt, und zwar in aller Stille?«
»Sie hatte ihre Medikamente abgesetzt. Das war ihm klar. Ich hab sie ins Krankenhaus bringen lassen.«
»Das hat Sie bestimmt mitgenommen.«
»Früher hab ich fünfzig Kilo gewogen«, antwortete Vienna.
Jo bewahrte ein ausdrucksloses Gesicht.
Vienna stieß ein scharfes Lachen aus. »Da müssen Sie
noch ein bisschen üben, Doctor. Das ist das
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