Die Cassini-Division
Gewissensbisse. Angenommen, die Jupiteraner sind keine Flatliner, angenommen, sie sind wirklich intelligente Wesen wie
du und ich, bloß viel klüger, mit einem komplexeren
und reicheren Innenleben. Schließlich könnten sie sich
auf ganz natürlichem Wege aus den frühen Jupiteranern
entwickelt haben, sodass wir nicht mit neuen Versionen der
ursprünglichen wahnsinnig gewordenen Uploads zu tun
hätten, sondern mit einer neuen Spezies, einer neuen
Lebensform. Wäre es dann nicht so, als würde eine
Schimpansenhorde den ersten Menschen mit Steinen den Schädel
einschlagen?«
Ich unterdrückte mein Erstaunen über dieses
Zurückweichen, diesen Wackelkurs, wie alte Genossen
sich ausgedrückt hätten, und das ausgerechnet bei
meinem Sicherheitsoffizier und ältesten Verbündeten.
Ich kämpfte meine Empörung nieder. Wenn Tony
Gewissensbisse hatte, dann war er bestimmt nicht der Einzige, und
indem er ihnen Ausdruck verlieh, tat er mir einen Gefallen.
»Umso mehr spricht dafür«, sagte ich und
klopfte ihm schwesterlich auf die Schulter. »Denk nur mal
dran, was den Schimpansen ihr Zaudern eingebracht hat.«
Wir verstanden einander hervorragend. Obwohl wir seit
zweihundert Jahren befreundet waren, hatten wir nie eine sexuelle
Beziehung gehabt (von ein paar Ficks im angetrunkenen Zustand
einmal abgesehen). Er war einfach nicht mein Typ und ich nicht
der seine. In jeder anderen Hinsicht aber kannten wir einander
durch und durch. Nicht, dass wir in allen Punkten einer Meinung
gewesen wären, doch wir verstanden es, entweder zu einer
Übereinstimmung zu gelangen oder die Differenzen
auszuhalten. Wir wussten, wie der jeweils andere dachte.
Ich wusste, was in Tony im Moment vorging. Obwohl er das wahre
Wissen verstandesmäßig akzeptiert hatte, hatte er es
sich nicht wirklich zu eigen gemacht – im Unterschied zu
mir. Das wahre Wissen war über mich gekommen mit der Macht
einer Erleuchtung.
*
Das wahre Wissen… dieser Terminus ist die
Übersetzung eines koreanischen Begriffs, der so viel wie
›moderne Erleuchtung‹ bedeutet. Dessen
Schöpfer, eine Gruppe japanischer und koreanischer
›Angestellter‹ (dieser Begriff wurde unzutreffend
ins Koreanische übersetzt, denn in Wirklichkeit handelte es
sich um ›Zwangsarbeiter‹) hatten mithilfe
zerfledderter alter Werkausgaben von Stirner, Nietzsche, Marx,
Engels, Dietzgen, Darwin und Spencer, den einzigen
verfügbaren philosophischen Werken in der Bibliothek des
Arbeitslagers, Erleuchtung erlangt. (Die Philosophie und
Wissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts war von ihren
Vorgesetzten als dekadent oder subversiv verworfen worden –
was davon zutraf, habe ich vergessen.) Voller Eifer hatten sie
diese Bücher – die ironischerweise als das letzte Wort
des modernen Denkens galten – studiert und aus ihrem Inhalt
und ihren eigenen bitteren Erfahrungen die erste sozialistische
Philosophie geformt, die auf zutiefst pessimistischen und
zynischen Annahmen über das menschliche Wesen
gründete.
Das Leben ist ein Prozess des Niederreißens und
Umformens von Materie und notfalls auch anderem Leben. Somit
bedeutet Leben Aggression und erfolgreiches Leben erfolgreiche
Aggression. Das Leben ist der Abschaum der Materie, und Menschen
sind der Abschaum des Lebens. Es gibt nichts außer Materie,
Kräften, Raum und Zeit, die zusammen die höchste Macht
darstellen. Nichts ist wichtig außer dem, was einem selbst
wichtig ist. Macht schafft Recht, und Macht schafft Freiheit. Man
darf tun, was einem möglich ist, und wenn man überleben
und sich weiterentwickeln will, ist man gehalten, nach seinen
Interessen zu handeln. Kollidieren diese Interessen mit denen
anderer Menschen, soll man seine Kräfte mit ihnen messen,
jeder für sich. Entsprechen die eigenen Interessen denen
anderer Menschen, soll man mit ihnen zusammenarbeiten und sich
gegen den Rest wenden. Du bist, was du isst, und du bist ein Allesfresser.
Alles, was einem teuer ist, das Gute, Wahre und Schöne am
Leben, hat seine Wurzeln in diesem unfruchtbaren Boden.
Das ist das wahre Wissen.
Auf diesem Felsen hatten wir unsere Kirche gebaut. Wir hatten
unseren Idealismus auf die nihilistischsten Schlussfolgerungen
der Wissenschaft gegründet, unseren Sozialismus auf krassen
Eigennutz und unsere Freiheit auf Determinismus. Wir hatten die
Moral durch Konventionen ersetzt, Tapferkeit durch Sicherheit,
Genügsamkeit durch Überfluss, Philosophie durch
Wissenschaft,
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