Die Chancellor
muß.
Übrigens ist es von Wichtigkeit, daß der Plan dieses
Riffs, das man noch auf keiner Karte verzeichnet fin-
det, sorgfältig aufgenommen wird. Ich glaube mit den
Herren Letourneur diese hydrographische Arbeit aus-
führen zu können, wobei wir Kapitän Kurtis natürlich
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die Sorge überlassen, sie durch genaue Aufnahme der
geographischen Länge und Breite zu vervollständigen.
Die Herren Letourneur stimmen meinem Vorschlag
zu. Ein Boot nebst Tieflot wird uns zur Verfügung ge-
stellt, dazu ein Matrose zur Leitung, und am Morgen des
31. Oktober verlassen wir die ›Chancellor‹.
18
31. Oktober bis 5. November. – Wir haben damit begon-
nen, das Riff, dessen Länge eine Viertelmeile betragen
mag, zu umfahren.
Diese kleine »Umschiffung« ist bald beendet, und
wir bestätigen, die Sonde in der Hand, daß die Ränder
des Gesteins unter Wasser sehr steil abfallen. Das Meer
zeigt sich noch ganz nah daran sehr tief, und es un-
terliegt kaum einem Zweifel, daß eine auf plutonische
Kräfte zurückzuführende plötzliche Erhebung, ein hef-
tiger Druck von unten, das Riff über die Meeresfläche
gedrängt haben.
Auch über den rein vulkanischen Ursprung des gan-
zen Eilands ist gar nicht zu streiten. Durchweg besteht
es aus ungeheuren Basaltblöcken, deren regelmäßige
Prismen ihm das Aussehen einer gigantischen Kristal-
lisation verleihen. Das Meer ist rund um den Rand des
Riffs ganz wunderbar durchsichtig, und läßt die sonder-
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baren Bündel prismatischer Schafte erkennen, die den
merkwürdigen Bau tragen.
»Das ist ein eigentümliches Gebilde«, bemerkt Mr.
Letourneur, »und gewiß neueren Ursprungs.«
»Ohne Zweifel, Vater«, antwortet der junge André,
»und ich füge noch hinzu, daß es dieselbe Ursache, der
z.B. die Insel Julia an der Küste Siziliens und die Insel
Santorin im griechischen Archipel ihre Entstehung ver-
danken, gewesen ist, die dieses Eiland zur gelegenen
Zeit erschuf, um die ›Chancellor‹ darauf stranden zu
lassen!«
»Eine Bodenerhebung in diesem Teil des Atlantischen
Ozeans«, bestätige ich, »muß zwangsläufig stattgefun-
den haben, da dieses Riff auch auf den neuesten Kar-
ten sich nicht verzeichnet findet, und schwerlich konnte
es doch den Augen der Seeleute in dieser vielbefahre-
nen Gegend des Ozeans bis jetzt entgehen. Wir wollen
es deshalb sorgfältig untersuchen und zur Kenntnis der
Seefahrer bringen.«
»Wer weiß, ob es nicht infolge eines ähnlichen Pro-
zesses, wie dessen, der es erhob, nicht auch bald wie-
der verschwinden wird?« antwortet André Letourneur.
»Sie wissen, Mr. Kazallon, daß solche vulkanische In-
seln häufig nur von ganz ephemerem Bestand sind, und
wenn die Geographen diese hier in ihre Karten einge-
tragen haben, existiert sie vielleicht schon nicht mehr.«
»Das macht nichts, liebes Kind«, wendet Mr. Letour-
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neur ein. »Es ist besser, vor einer nicht mehr vorhande-
nen Gefahr zu warnen, als eine tatsächlich bestehende
geringschätzig zu übergehen, und die Seeleute werden
sich deshalb nicht zu beklagen haben, wenn sie ein Riff
auch nicht mehr da antreffen, wo wir eines fanden.«
»Du hast recht, Vater«, erwiderte André, »nach allem
ist es ja auch möglich, daß ihm eine ebenso lange Dauer
bestimmt ist, wie unseren Kontinenten. Wenn es aber
verschwinden soll, würde es Kapitän Kurtis gewiß gern
sehen, daß es nach einigen Tagen, wenn er seine Hava-
rien ausgebessert hat, geschähe, denn das würde ihm die
Mühe ersparen, sein Schiff wieder flottzumachen.«
»Wahrlich, André«, rief ich da scherzend, »Sie wol-
len wohl mit der Natur ganz nach eigenem Gutdün-
ken schalten und walten! Sie verlangen, daß jene ein
Riff ganz nach Ihrem Willen hebe oder senke, so ganz
nach Ihrem höchsteigenen persönlichen Bedürfnis, und
nachdem sie diese Felskanten ganz speziell geschaffen
hat, um die brennende ›Chancellor‹ löschen zu können,
mag sie Klippen, nur auf die Berührung Ihrer Wün-
schelrute, wieder versenken, um sie wieder frei zu ma-
chen?«
»Nein, nein, Mr. Kazallon«, erwidert der junge Mann
lächelnd, »ich will gar nichts, als Gott danken, daß er
uns so sichtbar beschützt hat. Er hat unser Fahrzeug auf
dieses Riff werfen wollen und er wird es schon wieder
schwimmen lassen, wenn die Zeit dazu gekommen ist.«
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»Und wir werden dazu mit allen Kräften helfen, nicht
wahr, meine
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