Die Chronik der Drachenlanze 1 + 2
schüttelte den Kopf. »Es muß einen anderen Weg geben«, sagte sie starrköpfig. »Wir werden ihn suchen!«
»Wo liegt das Problem?« fragte Tanis. »Wir müssen uns beeilen ...«
»Sie hat Höhenangst«, sagte Flußwind.
Goldmond schob ihn beiseite. »Wie kannst du ihm das sagen !« schrie sie, ihr Gesicht wurde vor Zorn rot.
Flußwind sah sie kühl an. »Warum nicht?« fragte er mit belegter Stimme. »Er gehört nicht zu deinen Untertanen. Du kannst ihn ruhig wissen lassen, daß du ein Mensch bist, daß du Schwächen hast. Du hast nur noch einen Untertan, den du beeindrucken mußt, Häuptling, und das bin ich!«
Aus Goldmonds Lippen wich die Farbe. Ihre Augen waren weit aufgerissen und hatten den starren Blick einer Leiche. »Befestige bitte den Stab an meinem Rücken«, sagte sie zu Tanis.
»Goldmond, er meinte nicht...«, begann er.
»Gehorche mir!« befahl sie schroff, ihre blauen Augen funkelten vor Zorn.
Tanis seufzte und befestigte den Stab an ihrem Rücken. Goldmond würdigte Flußwind keines Blickes. Dann ging sie zum Rand. Sturm sprang zu ihr.
»Laß mich vor dir gehen«, sagte er. »Wenn du ausrutschst ...«
»Wenn ich ausrutsche und stürze, wirst du mit mir stürzen. Das einzige, was wir erreichen würden, wäre, daß wir beide sterben«, sagte sie eisig. Sie beugte sich vor, ergriff die Schlingpflanzen und schwang sich über den Rand. Fast sofort verloren ihre feuchten Hände den Halt. Tanis hielt den Atem an. Sturm sprang vorwärts, obwohl ihm klar wurde, daß er nichts machen
konnte. Flußwind stand beobachtend mit ausdruckslosem Gesicht da. Goldmond klammerte sich krampfhaft an die Pflanze. Sie fand festen Halt und ließ nicht mehr los, unfähig zu atmen oder sich zu bewegen. Sie drückte ihr Gesicht in die feuchten, dicken Blätter, zitterte und hielt ihre Augen fest geschlossen, um nicht nach unten blicken zu müssen. Sturm kletterte ihr nach.
»Laß mich in Ruhe«, sagte Goldmond mit zusammengepreßten Zähnen. Sie holte zitternd Luft, warf Flußwind einen stolzen, herausfordernden Blick zu und begann sich weiter hinabzulassen.
Sturm blieb in ihrer Nähe, während er geschickt hinunterkletterte. Tanis, der neben Flußwind stand, wollte etwas sagen, aber er fürchtete, noch mehr Schaden anzurichten. Ohne ein weiteres Wort ging er zum Rand. Flußwind folgte schweigend.
Tanis fand den Abstieg leicht, obwohl er die letzten Meter ausrutschte und in einer Pfütze landete. Er bemerkte, daß Raistlin vor Kälte zitterte, sein Husten hatte sich in der feuchten Luft verschlimmert. Mehrere Gossenzwerge standen um den Magier herum und starrten ihn bewundernd an. Tanis fragte sich, wie lange der Zauber wohl noch anhalten würde.
Goldmond lehnte bebend an einer Wand. Sie sah Flußwind nicht an, als er den Boden erreichte und sich von ihr mit ausdruckslosem Gesicht abwandte.
»Wo sind wir?« schrieTanis, um den Wasserfall zu übertönen. Der Nebel war so dick, daß er außer zerbrochenen, mit Kletterpflanzen und Pilzen überwucherten Säulen nichts sehen konnte.
»Großer Platz dort.« Bupu zeigte mit ihrem schmutzigen Finger in westlicher Richtung. »Kommt. Ihr folgt. Großbulp sehen!«
Sie marschierte los. Tanis streckte seine Hand aus und hielt sie fest. Bupu starrte ihn tief beleidigt an. Der Halb-Elf zog seine Hand zurück. »Bitte. Hör mal einen Moment zu! Was ist mit dem Drachen?Wo ist der Drache?«
Bupus Augen wurden groß. »Du willst Drachen?« fragte sie.
»Nein!« schrie Tanis. »Wir wollen den Drachen nicht. Aber wir müssen wissen, ob der Drache hierherkommt ...« Er spürte Sturms Hand an seiner Schulter und gab auf. »Vergiß es. Mach dir nichts daraus«, sagte er erschöpft. »Geh weiter.«
Bupu schenkte Raistlin einen Blick voll tiefem Mitgefühl, daß er es mit solch verrückten Leuten zu tun hatte, nahm ihn bei der Hand und trottete die Straße zum Westen hinunter. Die anderen Gossenzwerge zottelten hinterher. Halbbetäubt vom donnernden Lärm des Wasserfalls folgten die Gefährten und sahen sich unbehaglich um. Dunkle Fenster und finstere Türeingänge schienen sie drohend zu beäugen. Jeden Moment erwarteten sie schuppige bewaffnete Drakonier. Aber die Gossenzwerge schienen unbekümmert zu sein. Sie patschten die Straße entlang, hielten sich so nahe wie möglich bei Raistlin und plapperten in ihrer ungehobelten Sprache.
Schließlich wurde das Geräusch des Wasserfalls leiser. Der Nebel hielt sich jedoch weiterhin, und die Stille der toten Stadt war bedrückend.
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