Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
erinnerte sich an das Krächzen der Raben und die schreckliche Eule, die seine Mutter angegriffen hatte. Von seinem Versteck unter dem Wacholderbusch hatte er alles genau gesehen: Wie seine Mutter sprang und die Kiefer zuschnappen ließ, wie die große Eule mit den Klauen nach ihr geschlagen hatte. Dann war seine Mutter fort, und sein Vater hatte gegen die Eule gekämpft, und Groß Schwanzlos hatte ihn angebellt, er solle bleiben , wo er war, aber das konnte er nicht. Er war losgerannt. Plötzlich hatten ihn Krallen gebissen, und er hatte den Boden nicht mehr unter den Pfoten gespürt, weil er auf einmal geflogen war.
Er hatte sich gewunden und gejault, aber niemand hatte ihn gehört. Sein Vater und Groß Schwanzlos waren bald nur noch kleine Pünktchen, während die grässliche Eule ihn immer höher trug. Selbst die Raben blieben irgendwann zurück. Dann war kein Wald mehr zu sehen, sondern bloß noch leeres Weiß mit ein paar Stöckchen darin, die ein bisschen wie Bäume aussahen.
Vor lauter Entsetzten hatte das Wolfsjunge gewimmert.
Sie flogen lange, sehr lange. Dann weckte ein zorniges Krächzen den jungen Wolf und die Raben kamen plötzlich aus dem Oben herab. Sie ärgerten die Eule, die ihnen auszuweichen versuchte. Er hatte in ihre Klaue beißen wollen, aber er war zu klein und kam nicht richtig dran. Ein ums andere Mal griffen die Raben an. Dann hatte die Eule ihn losgelassen. Er war tief in das Weiche Weiße Kalt geplumpst und hatte sich vor Schreck nicht mehr rühren können.
Nachdem eine Weile nichts passiert war, hatte er sich aufgerappelt und vorsichtig den Kopf hinausgestreckt.
Die schreckliche Eule war weg.
Alles andere war auch fort. Die Raben, der Wald, die Wölfe. Ringsum gab es nur noch Wind und Weiß.
Er grub sich aus dem Weichen Weißen Kalt und stolperte den Hügel hoch, um die Gerüche zu erschnüffeln, wie sein Vater es immer machte. Seine Flanken taten weh, seine Beine zitterten. Er war hungrig. Er hatte Angst. Er hob die Schnauze und heulte kläglich.
Niemand kam.
Der Welpe hatte etwas von dem Weichen Weißen Kalt gegessen. Es füllte ihm den Bauch, half aber nicht viel gegen den Hunger.
Müde trottete er am Hang entlang. Der Wind hatte nachgelassen, das Dunkel zog herauf. Seine Krallen fühlten sich eigenartig angespannt an. Er spürte, das alles ringsum – der Hügel, das Weiche Weiße Kalt, sogar das Oben – auf etwas wartete: Auf etwas Schlimmes.
Schließlich kam er an einem kleinen, verkrüppelten Weidenbusch vorbei, der sich an die Böschung klammerte. Die Stelle erinnerte ihn an den Lagerplatz, und er beschloss, in ihrer Nähe zu bleiben.
Er schnupperte überall herum und entdeckte eine Art Höhle, aus der ein interessanter, vage bekannter Geruch strömte.
Mit einem Mal schlug ihm etwas auf die Nase. Er jaulte auf, sprang zurück – und bekam einen tüchtigen Klaps auf das Hinterteil versetzt. Dann hagelte es Püffe und Schläge, dass ihm Hören und Sehen verging. Es kam aus dem Oben. Er hob die Schnauze und es traf ihn prompt ins Auge. Wie der Blitz flüchtete er unter eine Weide.
Aus dem Prasseln wurde ein donnerndes Getöse. Das Harte Weiße Kalt brüllte aus dem Oben, knickte Äste, trommelte mit seinen Fäusten auf den Welpen ein.
Die Höhle. Geh in die Höhle.
Er nahm allen Mut zusammen und flitzte hinein.
Ha! Hier konnte ihm das Harte Weiße Kalt nichts anhaben! Er hörte sein wütendes Fauchen.
Die Höhle war kaum größer als er selbst, aber weiter hinten wurde der interessante Geruch noch kräftiger. Der Welpe schnupperte und streckte dann, vorsichtig tastend, eine Pfote aus. Der Vielfraß war Ohn-Hauch.
Für gewöhnlich aß er nur weiches, einfach zu kauendes Fleisch, das seine Mutter oder sein Vater hochgewürgt hatten; nun musste er sich mächtig anstrengen, bis es ihm gelang, das Maul um ein Stück Vielfraß zu schieben. Das Fleisch war so zäh wie ein Stück Holz, aber nach langem Knabbern hatte er ein Fleischstück gerissen und schluckte es herunter.
Er aß, bis sein Kiefer wehtat und sein Bauch sich voll anfühlte. Zum Schluss wälzte er sich noch ein wenig in dem verdorbenen Geruch. Dann schlief er ein.
Als er erwachte, prasselte das Harte Weiße Kalt immer noch auf den Hügel herab. Er schlang noch mehr Vielfraß hinunter und schlief wieder ein. Wurde wieder wach. Fraß. Schlief ein …
Als er von Neuem erwachte, war alles still.
In jenem Jetzt, in das er im Schlaf gewandert war, hatten er und seine Geschwister gespielt; sie waren
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