Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
ich mich schön langsam von oben nach unten. Außerdem töte ich ein zweites, nur für dich allein.«
Sie lächelte matt.
Torak hockte sich ans Ufer und füllte seinen Wassersack. »Was ist das überhaupt für ein Fluss?«
»Keine Ahnung. Ist mir auch egal. Falls ich nicht bald was zwischen die Zähne bekomme, esse ich meinen Medizinbeutel.«
Doch Torak hörte ihr nicht mehr zu. Stattdessen zog er sich mit einem Ruck den Fäustling herunter und klaubte etwas aus dem Wasser.
»Was ist das?«, fragte Renn.
Er hob es hoch. Ein hellbraunes Haar, lang wie ein Daumen.
Ein Rentierhaar.
»Die Herde muss weiter flussaufwärts sein«, sagte Renn.
Sie lauschten, aber das Rauschen des Flusses war zu laut.
Beide Ufer waren mit Geröllhaufen übersät und unwegsam. Sie mussten entweder einen weiten, zeitraubenden Bogen um die Hügel schlagen oder klettern. Sie entschieden sich für Letzteres. Das ging schneller, außerdem hatten sie oben von der Kuppe eine bessere Übersicht.
Das Klettern war mühsamer als gedacht. Torak musste erschrocken feststellen, wie entkräftet er inzwischen war. Schwarze Flecken kreisten vor seinen Augen, jeder Schritt kostete ihn große Mühe. Neben sich hörte er Renn vor Anstrengung keuchen.
Wolf war vorausgelaufen. Neben einem der Torfmänner blieb er kurz stehen, bevor er Torak mit langen Sprüngen entgegenlief. Sein Fell sträubte sich vor Aufregung. Rentiere! Mach schnell! Wir jagen!
Torak übersetzte es getreulich für Renn.
Ihre Augen unter der Schneemaske blitzten auf. »Los, beeilen wir uns.«
Torak erklärte seinem Rudelgefährten rasch, dass er ohne sie jagen müsse, weil er dadurch bessere Chancen auf Beute habe. Wolf trabte gehorsam davon und verschwand hinter der Kuppe.
Die Aussicht auf die bevorstehende Jagd verlieh Torak und Renn neue Kräfte. Kurz vor der Kuppe ließen sie sich lautlos nieder und krochen bäuchlings weiter. Rentiere verfügen über feine Sinne. Falls die Herde sich auf der anderen Seite des Hügels befand, kam es vor allem darauf an, sie nicht zu verscheuchen.
Torak ließ vorsichtig den Bogen von der Schulter gleiten und zog einen Pfeil aus dem Köcher. Renn war ihm bereits zuvorgekommen und hatte außerdem ihr rotes Haar zusammengefasst und unter ihre Kapuze gestopft, damit der farbenprächtige Schopf sie nicht verriet. Als sie seinen Blick bemerkte, berührte sie die Federn ihres Totemtiers und grinste ihn auf die vertraute Weise mit gebleckten Zähnen an.
Der eisige Wind blies Torak ins Gesicht. Das war gut. Er trug seinen Geruch von der Herde weg.
Langsam und unauffällig kroch er das letzte Stück zum Kamm hinauf. Oben angekommen hielt er den Atem an.
Der Hügel fiel steil zu einem glitzernden, geschwungen Flusslauf ab, und in diesem Fluss war ein weiterer Fluss zu sehen, der ihn durchquerte: ein schwarzer glänzender Strom von Leibern, eine Rentierherde. Schleier aus gefrorenem Atem umwölkten die Schnauzen und schimmerten golden im Sonnenschein. Kälber blökten; Mutterkühe antworteten grunzend; brunftige Böcke schnaubten vor Aufregung – alles untermalt von dem Stampfen Tausender Hufe.
Bisher hatte Torak im Wald nur kleinere Rentierherden gesehen. Beinahe ehrfürchtig beobachtete er, wie die schier endlose Riesenherde nun langsam und zielbewusst ans gegenüberliegende Ufer schwamm. Von dort, wo er lag, fiel der mit Weidenbüschen bewachsene Hügel steil ab, ging in eine schmale, kiesige Senke über und stieg zu einem wiederum mit Weidenbüschen bewachsenen Steilhang an. Diese Senke musste eine uralte Wanderroute der Rentierherden sein. Fin-Kedinn hatte ihm einmal erzählt, dass die großen Herden den Routen ihrer Vorväter viele Winter treu blieben.
Eng zusammengeschart drängte sich die Herde durch die Senke; mit gereckten Köpfen, deren Geweihe sich ineinander zu verkeilen drohten, durchschwammen die Tiere den Fluss; dann schwappten sie wie eine Welle ans andere Ufer, wo sie wieder auseinanderstrebten. Torak wusste genau, dass viele Jäger diesen lebendigen Strom verfolgten: Adler, Raben, Vielfraße und Menschen.
Aber wo verbargen sich diese Menschen?
Rip und Rek glitten hoch über ihnen durch die Luft und hielten eifrig nach toten Rentieren Ausschau. Ein Bock, der die anderen vor der drohenden Gefahr warnen wollte, stieg auf den Hinterläufen auf und lief ein paar hastige Schritte, bevor er wuchtig wieder aufsetzte und einen Vielfraß verjagte, der eilig die Flucht ergriff. Dort, in weiter Ferne, stand Wolf, ein grauer Schatten am
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