Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
Straßen kämpften. Der zweite Posten hatte gesagt, dem sei nicht so: ein Kampf sei bei den Jalar-Docks ausgebrochen, und die Wachen der Jalaras und Ismeninas seien gemeinsam nicht in der Lage gewesen, ihm Einhalt zu gebieten. »Wenn nicht die Ismenin-Wachen gekommen wären, dann hätte sich das bis in den Hok-Bezirk und vielleicht sogar noch weiter ausbreiten können!«
»Das bezweifle ich«, sagte Arré. Aber der Klang der Muschelhörner hatte ihr Furcht eingejagt. Als man zuletzt die Hörner geblasen hatte, hatte eine Feuersbrunst fast den ganzen Sul-Bezirk zu erfassen gedroht, und es waren die vereinten Kräfte dreier Bezirke und die Gedankenheber aus dem Tanjo nötig gewesen, um die Flammen zu ersticken. Die Küchenhilfen in der Küche schnatterten aufgeregt über die Kämpfe. Arrés Nerven schrillten. Sie wollte etwas zu trinken. Sie ballte die Fäuste und strich tigernd im Salon auf und ab. Ich hätte es wissen müssen, dachte sie und gab sich gleich selbst Antwort: Sei kein Schaf, wie hättest du es wissen können? Bist du allwissend? Kannst du in die Zukunft blicken? Sowas geschieht eben.
Ich glaube nicht, daß dieser Kampf so einfach »passiert« ist, dachte sie. Nein, ich bin nicht allwissend. Trotzdem – ich hätte es wissen müssen!
Paxe kam ins Zimmer. Sie trug die Rüstung, einander überlappende Leder- und Stahlschuppen, und hielt eine Pike in der Hand. »Zweiundzwanzig Tote«, sagte sie leise. »Sie räumen jetzt die Straßen auf.«
Arré stöhnte. Der letzte Bericht hatte von zwölf Toten gesprochen, warum empfand sie zweiundzwanzig als so viel schlimmer als zwölf? »Ist Sorren immer noch nicht zurück?« fragte sie.
»Noch nicht«, gab Paxe zurück.
Lalith kam herein, ihre Augen schimmerten. »Noch zwei Antworten, eine von Boras Sul, eine von Kim Batto«, verkündete sie. »Sie sagen beide, sie kommen. Der Koch will wissen, was er zum Abendmahl servieren soll.«
»Ich bin nicht hungrig«, sagte Arré. Lalith verneigte sich und ging.
Paxe sagte: »Es ist besser, wenn man was ißt.«
Arré sagte: »Tote essen nicht.«
Paxe schüttelte den Kopf. »Arré, du bist dafür nicht verantwortlich.«
»Aber ich fühle mich dafür verantwortlich!«
»Gefühle sind keine Fakten.«
»Und Geduld ist eine Tugend«, antwortete Arré brüsk und kehrte dem Fenster den Rücken zu. »Sing mir keine Litaneien vor! Ist es deinen Wachen gelungen, eins von diesen Schwertern zu erwischen?«
»Noch nicht.«
»Ich will eins haben! Und ich will mit jemand, irgend jemand, Paxe, sprechen, der gesehen hat, wie dieser Aufruhr anfing. Jemand, der dabei war, der mitgekämpft hat, von mir aus, es ist mir gleich, aber ich will mit einem direkt Beteiligten sprechen. Bring mir irgendeine Frau her!«
»Das werde ich. Hab Geduld!« Paxes Ruhe konnte einen zur Weißglut bringen. Die Hofmeisterin trat an die Tür, rief nach Lalith und erteilte ihr Anweisungen. Dann trat sie wieder in den Salon zurück.
Sie stellte die Pike wie beiläufig neben die Tür. Der Koch drängte sich herein. Er stemmte die Pranken in die Hüften. »Was soll das heißen, du willst nicht essen?« murrte er. »Du wirst krank werden.« Lalith glitt durch die Tür und brachte eine Schale mit Äpfeln, die sie in beiden Händen trug, und der Koch starrte sie mit offenem Mund an.
»Verschwinde«, sagte Paxe leise zu ihm. Er warf den Kopf zurück. Er war beleidigt. »Mach was zu essen, sie wird es schon nehmen.«
Der Duft der Äpfel ließ Arré das Wasser im Mund zusammenlaufen. Zwischen aufeinandergepreßten Zähnen sagte sie: »Du sollst nicht über mich sprechen, als wäre ich nicht vorhanden!«
Lalith stellte die Schale auf den Tisch und ging hinaus. Paxe hob einen Apfel auf und rollte ihn zwischen den Handflächen. Sorren kam herein. Paxe legte den Apfel fort.
Arré fauchte: »Wo, zum Teufel, hast du gesteckt? Der Rat tritt heute abend zusammen. Hier!«
Sorren trat vor die Schale mit den Äpfeln. »Ich war dabei«, sagte sie leise.
Ihr Gesicht wirkte spitz und war ganz bleich. Arré trat neben sie, und Sorren begann die Äpfel zu sortieren, als wären sie das allerwichtigste im Raum. Sie wählte einen glatten gelben Apfel und umschloß ihn mit beiden Händen. Ihre Nagelränder waren rot, und an ihren Kleidern klebte Schmutz, und der Ausdruck ihrer Augen war seltsam.
»Du warst wo?« fragte Arré.
»Ich war dabei, beim Kampf. Ich hab' es gesehen.«
Arré spürte Kälte in sich aufsteigen. »Was hast du dort zu schaffen gehabt?«
»Ich war
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