Die Chroniken der Nebelkriege 2: Der Eisige Schatten
musterte.
Begeistert strahlte der Däumling jetzt Magister Eulertin an. »Fantastisch. Üblicherweise muss man beim Großen Volk ja ganz von vorn beginnen. Da habt Ihr wirklich einen guten Fang gemacht, Magister. Also, dann bitte ich mal Platz zu nehmen.«
Kai starrte dem Mechanikus kopfschüttelnd hinterher, musste sich jedoch eingestehen, dass er in seinem Heimatdorf Lychtermoor einer der Wenigen gewesen war, der Lesen und Schreiben gelernt hatte. Die anderen Kinder im Dorf hatten ihn deshalb ausgelacht, doch seine Großmutter hatte darauf bestanden, es ihm beizubringen. Nachdenklich folgte er dem Magister und stieg in die schwankende Eierschalengondel. Kai wurde blass, denn in diesem Moment ging ein Ruck durch die Kalkschale und es waren ein lautes Schwirren sowie das Ächzen und Knirschen der Zahnräder zu hören. Die Gondel setzte sich in Bewegung. Es ging steil abwärts in die Tiefe - geradewegs auf eine gigantische, weit ausladende Weide zu.
Kai schluckte und musterte das straff gespannte Grasseil. Ständig quietschte und ächzte es über ihnen, außerdem schaukelte die Eierschale heftig hin und her.
»So, ich denke, es ist an der Zeit, dass du mir den Rest deiner Geschichte erzählst«, forderte ihn Eulertin auf. Also berichtete Kai von den Vermutungen der drei Windmacher und dem Inhalt des Logbuchs, führte aus, wie er Sperberlingen aufgespürt hatte und entschloss sich nach kurzer Pause dazu, Eulertin auch grob über die Vergangenheit Gilraens aufzuklären. Fis Geheimnis behielt er jedoch für sich. »Wenn Ihr mich fragt«, beendete er seinen Bericht, »ich bin mir nicht sicher, ob man diesem Gilraen trauen können wird, sollte es Euch gelingen, ihn vom Hexenfieber zu erlösen.« »Ich kann ihn auch nicht heilen«, murmelte Eulertin und strich sich nachdenklich über den Bart. »Wenn dazu jemand in der Lage ist, dann ist das Amabilia. Sie war es, die mich im letzten Jahr darin bestärkte, für dich nach dem Herzen der nachtblauen Stille Ausschau zu halten.«
Das Herz der nachtblauen Stille war ein Gegenstand mit gewaltigen magischen Kräften, mit dessen Hilfe Eulertin Kai vor dem sicheren Tod - oder einem noch schrecklicheren Schicksal - bewahrt hatte. Kai schauderte bei dem Gedanken daran, dass er sich damals fast in ein Wesen der Finsternis verwandelt hatte.
Eulertin schien nichts von Kais Reaktion zu bemerken und fuhr ungewohnt redselig fort. »Amabilia ist eine Erdzauberin und zugleich die fähigste Heilkundige, der ich in meinem ganzen langen Leben begegnet bin.«
»Seid Ihr zusammen in Sperberlingen aufgewachsen?«
»Nein.« Der Däumlingszauberer räusperte sich. »Ich, äh, habe sie erst auf ihrer Hochzeit mit meinem Bruder Melber kennengelernt. Mein Lehrmeister, der selige Balisarius Falkwart, hatte mich damals zum Studium nach Halla geschickt.« »Ihr habt einen Bruder?«, wollte Kai verblüfft wissen. »Ist der auch Magier ?« »Ich hatte sogar zwei Brüder, Junge«, sagte der Magister mit spröder Stimme. »Melber und Florin. Beide sind schon lange tot. Sie sind einer schrecklichen Seuche zum Opfer gefallen.« Eulertin atmete tief ein und umklammerte seinen Zauberstab. »Na ja, ist schon lange her. Ungefähr einhundertundsiebzig Jahre.«
Kai hob erstaunt eine Augenbraue. Ihm war, als wollte der Magister noch etwas hinzufügen, doch Eulertin wechselte rasch das Thema. »Wir sind gezwungen, heute einige wichtige Entscheidungen zu treffen. Dummerweise beginnt bereits heute Abend das Mondfest, von dem die Feenkönigin gesprochen hat. Allerdings bezweifle ich, dass wir es heute noch schaffen werden aufzubrechen. Doch da das Tor zu ihrem Feenreich noch eine Woche offen steht, bleibt uns etwas Zeit. Mit ein bisschen Glück kann ich dem Konzil dann auch berichten, was es mit Eisenhands Panzerarm auf sich hat. Die Zwerge in Mondraiosch waren jedenfalls sehr aufgeregt, als ich ihnen das vermaledeite Ding gebracht habe.«
»Kriwa berichtete mir, dass Ihr auch in Halla wart. Dort sei ein finsteres Zauberbuch entwendet worden.«
Eulertin verzog sorgenvoll das Gesicht. »Ja, richtig. Das Liber nocturnus. Eines der übelsten Machwerke, das die Zaubererzunft je geschaffen hat. Geschrieben wurde es von Murgurak dem Raben, und es gelangte aus dem Nachtschattenturm des Hexenmeisters über zahlreiche Irrwege nach Halla. Niemand hat seitdem gewagt, seinen Inhalt zu studieren. Für das Buch der Nacht wurde eigens ein Turm ohne Fenster und Türen gebaut, der mit zahlreichen magischen Fallen gesichert war.
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