Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
damals wirklich gewesen war. Keuchend drehte Nando sich auf den Rücken. Er ertrug den Blick in das sterbende Engelsgesicht und sah das Erstaunen, das in Antonios Augen aufgeflammt war, kurz bevor er ihn verlassen hatte. Es war dasselbe Erstaunen gewesen wie das von Hadros, als er zu ihm zurückgekehrt war – nicht Nando, der Nephilim, Teufelssohn oder Schüler, sondern Nando, das Menschenkind.
Mit letzter Kraft hielt er sich an diesem Bild fest. Es trug ihn auf das Seil in seinem Inneren, und er kauerte sich hoch oben zusammen, während Licht und Schatten um ihn tobten. Überdeutlich hörte er seinen Frostzauber bersten, schon streckte Kymbra ihre Glieder. Er musste fliehen, doch er war wie gelähmt. Zu mächtig pulste eine Gewissheit durch seine Glieder, die jede Regung in ihm niederzwang: Jeder weitere Schritt würde ihn auf die eine oder die andere Seite führen – jeder weitere Schritt würde ihn den Verstand kosten.
Steh auf.
Die Stimme drang leise zu ihm, aber so deutlich, dass er die Augen aufriss. Er lag in seinem eigenen Blut. Schemenhaft erkannte er die erstarrten Dämonen um sich herum, aber auch Pherodos und Raar, die sich bereits aus der eisigen Umklammerung befreiten. Nandos Hände waren leer, das Schwert … Der Schreck raste schmerzhaft durch seine Glieder. Es lag mehrere Armlängen von ihm entfernt, und gerade als er es sah, landete Kymbra neben der Klinge. Sie hob Bhalvris auf wie einen Schatz.
Nando!, rief Noemi erneut, und jetzt sah Nando sie am Rand des Schlachtfelds kauern. Blut klebte an ihrer Stirn, sie war kreidebleich, aber in ihrem Blick loderte wilde Entschlossenheit, und als er die schwarzen Flammen sah, die sie auf ihren Händen entfachte, wandte er sich nicht mehr ab. Er spürte die Magie der Schatten, die in ihn eindrang, seinen Willen umfasste und ihn aufrichtete, und noch während er in seinen Gedanken die Schwingen ausbreitete, stemmte er sich in dem verfluchten Saal auf die Beine. Er schwankte, aber ehe Kymbra ihn erreichen konnte, riss Noemis Stimme ihn nach vorn. Wie im Traum stob er hoch in die Luft, zu plötzlich, um von Kymbra gepackt zu werden, und im selben Moment schoss ein Speer aus Eis an ihm vorbei, traf Kymbras Brust und schlug krachend im Altar ein. Nando landete benommen im Schatten zwischen den Säulen. Er sah Hadros vor sich, schwer verwundet und blutend, den Blick unverwandt auf ihn gerichtet. Knisternd brach sein Frostzauber über Kymbra herein, fesselte sie mit dem Speer in ihrer Brust an den Altar wie an einen Thron aus Eis und zog sich rasend schnell über die Dämonen hin.
Die Dunkelheit der Katakomben umfing Nando mit sanfter Gewalt, als Avartos ihn mit sich zog. Er spürte, dass der Engel schwer verwundet war, aber noch kämpfte dessen Körper gegen die mächtigen Flüche an, die sich durch sein Fleisch gruben. Kurz noch tauchte Noemis Gesicht vor Nando auf, unerschütterlich und stark, als sie sich aus seinen Gedanken zurückzog. Dann ergriff ihn die Ohnmacht, und er fiel in eine haltlose Dämmerung, fiel lange, ohne aufzukommen.
38
Noch ehe Nando die Augen aufschlug, wusste er, wo er sich befand. Der Stein der Katakomben war rau und feucht unter seinen Fingern, und die tiefe Schwärze lastete schwer auf seinen Gliedern.
Mühsam richtete er sich auf. Neben ihm glomm ein Flammenzauber, der etwas Licht spendete, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen. Noemi hatte ihn entfacht, Nando erinnerte sich daran, wie sie neben ihm gekniet und seine Wunden versorgt hatte, und er wusste, dass sie gemeinsam mit Kaya in der benachbarten Kammer bei Carmenya und Avartos war. Für beide bestanden Chancen auf Heilung, hatte sie ihm gesagt. Anders sah es bei Hadros aus. Der Krieger lag wenige Armlängen von Nando entfernt, die Spiegelaugen starr zur Decke gerichtet. Noch hielt sein Leib sich an der Welt fest, doch bald schon … Nando schauderte, als er an Noemis Blick dachte, so still und ohne jeden Zweifel. Hadros lag im Sterben.
Die Schale mit Wasser glitt Nando aus den Händen und landete scheppernd auf dem Boden, kaum dass er sich die aufgesprungenen Lippen benetzt hatte. Es kam ihm vor, als hätte er einen Lauf durch eine Ödnis hinter sich, die grausamer war als die Wüste des Lichts. Seine Finger schmerzten bei jeder Bewegung, sein Rücken schien wie gebrochen, und als er sich über die Stirn fuhr, spürte er tiefe Striemen in seiner Haut. Blitzlichtartig zischten die Bilder der Schlacht durch seinen Kopf, und er konnte Kymbras Lächeln sehen, durch
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