Die Chroniken von Araluen - Die Belagerung: Band 6 (German Edition)
Burg stand unmittelbar bevor!
Alyss hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wie diese Erscheinungen erzeugt wurden, und sie wusste, dass sie harmlos waren. Die Schreie und Rufe, die bis zu ihrem Fenster hallten, verrieten ihr jedoch, dass sie bei den Männern auf dem Wehrgang ihre beabsichtigte Wirkung erzielten und die Soldaten ganz verstört waren.
Verstört und abgelenkt.
Ihr Turmfenster zeigte nach Süden. Alyss unterdrückte ihre Höhenangst und spähte nach unten auf
den Festungswall. Sie sah die beiden Türme am Ende des Walls, und während sie die Geschehnisse beobachtete, kamen weitere Männer von der Westseite, weil sie in Malcolms Lichterzauber eine entsetzliche Bedrohung sahen. Alyss ahnte, dass all dies geschickte Ablenkungsmanöver waren. Der wirkliche Angriff würde aus einer anderen Richtung kommen. Bestimmt würden Will und Horace jeden Augenblick mit ihren Männern die Burg stürmen. Bei diesem Gedanken klopfte ihr Herz schneller.
Sie sah sich im Zimmer um und fragte sich, was sie tun konnte, um sich darauf vorzubereiten. Will würde sie holen kommen, dessen war sie sich sicher. Aber auf welchem Weg? Die Treppe in dem Turm würden Kerens Männer verteidigen. Blieb also nur noch der Weg über die Außenmauer – der Weg, den er schon beim letzten Rettungsversuch genommen hatte. Ihr Magen verkrampfte sich bei der Vorstellung, sich mit ihm über die Außenwand abzuseilen. Dann schüttelte sie energisch den Kopf. Wenn Will sie darum bat, würde sie es tun – egal, ob sie nun Höhenangst hatte oder nicht. Sie war schließlich ein Kurier des Königs und nicht die alberne Lady, deren Rolle sie gespielt hatte.
Vorsichtig zog sie an den beiden mittleren Gitterstäben vor dem Fenster. Sie wurden inzwischen nur noch von einem ganz dünnen Metallstück gehalten, denn Alyss hatte fast jede Nacht ein wenig Säure an die Verankerung geschüttet. Das Säurefläschchen, das jetzt
wieder außer Sichtweite auf dem Fensterkranz stand, war immer noch zu einem Viertel voll – mehr als genug, um das Werk zu vollenden.
Sie hörte neuerlich lautes Geschrei und versuchte, möglichst weit nach unten zu schauen, damit sie mehr von der Westmauer zu sehen bekam. Von dort schien der Lärm zu kommen, und noch während sie hinabsah, rannten die Männer vom Südwall in Richtung Südwesten. Jetzt hörte sie Waffen klirren – Schwerter, die aufeinanderschlugen, Äxte, die auf Schilde trafen. Ihr Herz machte einen Satz, als ihr klar wurde, dass die Angreifer bereits auf dem Westwall waren. Sie wechselte von einem Fuß auf den anderen und wünschte, sie könnte bis dorthin blicken, wo die Kämpfe stattfanden.
Sie zwang sich, zum Tisch zu gehen und sich zu setzen. Die Hände in den Schoß gelegt, atmete sie bewusst ein und aus.
Gerade als ihr heftig klopfendes Herz sich langsam wieder beruhigte, wurde die Tür aufgerissen und Keren stürmte mit dem Schwert in der Hand herein.
Nichts erinnerte mehr an den charmanten, netten Mann, den er ihr während der vergangenen Wochen vorgespielt hatte.
Alyss stand so schnell auf, dass ihr Stuhl umkippte. Sofort tastete sie nach dem Stellatit in ihrem Ärmel.
Keren durchquerte den Raum mit raschen Schritten, packte sie und zog sie mit sich. Als er ihren rechten Arm hinter ihrem Rücken hervorzog, rutschte der
winzige Kiesel heraus, fiel auf den Boden und kullerte Richtung Tisch. Keren sah sich bei dem Geräusch um, konnte jedoch nichts entdecken. Alyss stieß unwillkürlich einen Schreckensschrei aus und versuchte, sich den Stein zurückzuholen, doch Keren war zu stark für sie. Er ließ ihren Arm nicht los und halb zerrte, halb warf er sie in eine Ecke des Zimmers.
»Dorthin mit dir, verdammt!«, fluchte er.
Alyss sah, wie er am Griff seines Schwerts nestelte. Über dem Knauf lag eine weiche Lederhülle, deren Schnur er jetzt öffnete. Alyss stand auf, reckte das Kinn vor und drückte den Rücken durch. Sie lächelte kühl. Kerens Gelassenheit und Selbstsicherheit war wie weggewischt. Er konnte wohl die Schlinge um seinen Hals schon spüren – die er für seinen Verrat umgelegt bekäme.
»Es ist vorbei, Keren«, sagte sie ruhig. »Jeden Augenblick wird Will durch diese Tür kommen und Euer kleiner Plan löst sich in Luft auf.«
Keren blickte sie an. Aus seinen Augen sprach Hass. Hass auf Alyss, weil sie ihn zurückgewiesen hatte, und Hass auf ihre Stellung als Repräsentantin des Landes und des Königs, den er verraten hatte.
»Noch nicht ganz«, entgegnete er. Er
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