Die Chronistin
Die Hofdamen berichteten, dass sich draußen das Volk zusammenrotte, um eine große Dankprozession von Saint-Mathurin nach Saint-Jacques zu begehen – den Herrn im Himmel preisend, der dem schon so lang vermählten, aber bislang kinderlosen Thronfolgerpaar endlich einen Prinzen geschenkt hatte.
Blanches Kopf begann unruhig auf dem Kissen zu kreisen. Jetzt erst fand Sophia Zeit, ausführlich ihr Antlitz zu mustern. Beinahe ein Jahrzehnt lebte sie in Frankreich und sah doch aus wie ein kleiner Vogel, der aus dem warmen Nest gestoßen ward. Eckig war das Gesicht – die Brüste knabenhaft, obgleich sie eben geboren hatte.
»Still«, murmelte Sophia. »Still.«
Sie hatte nicht gehen wollen, solange ungewiss blieb, ob die Dauphine überleben würde. Erst jetzt, da sie in Schlaf gesunken war und der Blutfluss aufgehört hatte, begann sie sich zu fragen, wie sie dem Königspalast wieder entrinnen konnte – still und vor allem leise und unauffällig. Als unheilvolle Stätte hatte sie ihn in all den Jahren in Erinnerung gehabt und ihn nie wieder betreten, nachdem Frère Guérin sie verstoßen hatte.
Blanche blinzelte.
»Habt Dank, dass Ihr an meiner Seite verblieben seid«, murmelte sie.
»Gewiss ist es nun nicht länger vonnöten«, sagte Sophia. »Eurem Sohn geht es wohl – eben brachte man ihn zum König. Nun werden sich Eure Damen Eurer annehmen.«
Blanche starrte blicklos wie vorhin, doch plötzlich ertönte ein raues Schluchzen, und sie griff nach Sophias Hand. »Ach, meine Damen!«, stieß sie aus. »Sie können ja doch nichts, als den ganzen Tag zu plappern wie aufgeregte Hühner! Verbluten hätten sie mich lassen! Wie ich sie hasse!«
Die Heftigkeit der Worte überraschte Sophia – desgleichen die Tränen, die über ein Gesicht flössen, das eben noch an jeder Lebensregung gespart hatte.
»Nur ruhig, ma Dauphine«, sprach Sophia, vom Leid der anderen überdrüssig gestimmt. »Ihr habt einen Sohn! Es ist heute ein Freudentag!«
»Für Frankreich vielleicht, nicht für mich«, erklärte Blanche bitter. »Keinen Tag bin ich hier froh geworden. Als ich ein Mädchen war, liebte ich die gleißende Sonne und das grünliche Meer – den Regen und den grauen Himmel hier aber vermag ich nicht zu ertragen. Und wisst Ihr, was ich in meiner Heimat am liebsten aß? Das einfache Mahl der Hirten. Würzigen Ziegenkäse und rabenschwarze Oliven. Oft erwache ich nachts, und Speichel rinnt mir aus dem geöffneten Mund, und ich verzehre mich aus Gier nach diesem Mahl. Nichts kann hier jemals meinen Hunger stillen, nichts mich satt machen. Glaubt mir, ich habe oft alles erbrochen, was man mir reichte.«
Das Reden erschöpfte sie, aber sie konnte nicht damit aufhören. Klagend klang, was sie sagte, und zugleich kindlich trotzig.
»Jetzt müsst Ihr essen, um wieder zu Kräften zu kommen«, bemerkte Sophia kühl – und fühlte weder Interesse noch Mitleid. »Und desgleichen meine Medizin zu Euch nehmen.«
Vorsichtig versuchte sie ihr einen Löffel Wein mit zerstoßenem Augenstein zu geben, doch Blanche – vor Stunden noch nicht fähig, eines ihrer Glieder zu regen – stieß ihn weg.
»Was sollt ich meine Kräfte wiederfinden, wenn es doch nichts gibt, was mich erfreut?«
Sophia zuckte die Schultern, stand auf und betrachtete sie von oben herab. »So müsst Ihr eben etwas finden. Ich kann Euch nur einen Rat geben: Haltet Euch mit nichts auf, was vergangen ist. Was soll’s, dass Ihr Eure Heimat verloren habt? Ist der Kummer darüber nicht längst faulig geworden? Wenn Ihr an Euren Ziegenkäse denkt, den Ihr so liebt – ist es nicht besser, sich ihn auszumalen, wie er zu lange in der Sonne steht, fette Fliegen anzieht und langsam verschimmelt?«
Sie wich Blanches ungläubigem Blick aus, indessen die eigene Vergangenheit so farblos an ihr vorbeizog, als läge sie unter dem schmutzigen Eis vergraben, das an kalten Wintern die Seine überzog. Nichts hatte sie vergessen, aber nichts hatte sie jemals wieder fühlen wollen.
Weder den Gram über Frère Guérin. Noch die Schuld ob all der großen Sünden, die sie begangen hatte: Verrat. Betrug. Mord.
»Glaubt mir«, setzte sie bekräftigend hinzu, »ich lebe gut, weil ich mich an das halte, was ich Euch eben riet. Sucht etwas, woran Ihr Euer Herz hängt! Füllt Euer Leben mit Tätigkeit, auf dass keine Leere darin bleibe! Und vor allem: Dreht Euch niemals um! Das schmerzt nur, aber lohnt sich nicht.«
Blanche schluchzte leiser und jetzo tränenlos. Sophia wollte ihre Antwort
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