Die Chronistin
sind?«
»Schweig!«, schimpfte Roesia. »Du weißt nicht, was du redest. Gewiss, das Geschick von Sophia und Cathérine stimmt mich bange – doch wissen wir nicht, ob Gret tot ist wie die beiden. Mag sein, dass sie sich nur in einem dunklen Winkel verkrochen hat und dort ihre heidnischen Götter anruft.«
Man starrte sie mit aufgerissenen Mündern an – von ihrer herrischen, aufgebrachten Stimme beinahe so sehr verstört wie von den schrecklichen Ereignissen. Jeder wusste, dass Roesia niemals laut wurde. Wie bitter war es, dass sie sich inmitten dieser Heimsuchung nicht als ruhiger Fels gebärdete, sondern wie eine von ihnen!
Einzig Sœur Eloïse bewahrte sich den nüchternen Blick.
»Mutter Äbtissin«, sprach sie auf Roesia ein, indessen sich jene die Schläfen rieb. Die gestrigen Kopfschmerzen waren wieder über sie gekommen und ließen nicht nach. »Mutter Äbtissin, wir müssen in Ruhe unser Vorgehen planen. Ich schlage vor, dass wir alle nach Gret suchen und zu diesem Zweck das Tagwerk ruhen lassen.«
»Bist du verrückt?«, entfuhr es Roesia unruhig. »Umso mehr wird jeder den Eindruck haben, die Schrecken der Letzten Tage seien über uns gekommen und würden den Alltag ausmerzen.«
»Aber nein. Unmöglich ist’s heute, dass eine jede sich ihren Pflichten widmet. Du kannst befehlen, dass sie schweigen – aber dann werden die Gedanken, die durch die Köpfe kreisen, noch fürchterlichere Fantasien gebären. Sind sie aber mit der Suche nach Gret beschäftigt, so setzt man der Ohnmacht und Angst ein klares Tun entgegen.«
Roesia seufzte und schalt sich selbst. Schwer fand sie sich in der eigenen Haut zurecht. Warum nur war sie derart aufgewühlt, anstatt sich Eloïses kühle Berechnung anzueignen? Warum gelang es ihr nicht, das Unbehagen abzuschütteln, das jenem der dümmsten ihrer Mitschwestern glich?
»Vielleicht hast du Recht«, gab sie klein bei. »Wir wollen mit der Suche beginnen.«
»Und noch etwas«, fügte Eloïse hinzu, »ist es nicht ratsam, dem Bischof zu schreiben?«
»Worüber? Dass wir zwei Tote gefunden haben und eine Dritte verschwunden ist?«
Nachdenklich zögerte Eloïse mit ihren Worten. »Ihr habt doch mit Gret gesprochen«, fügte sie schließlich hinzu, »was hat sie Euch gesagt – vor allem über die Chronik?«
Roesia sah sich selbst mit der anderen im Hof stehen, starr und aufrecht und vom grauen Nebel eingehüllt. Jener schien sich auch auf die Erinnerung zu legen. Die Worte der anderen klangen darin nicht wie die aus einem Menschenmund, sondern wie das Krächzen eines schwarzen Vogels.
»Sie hat gesagt, dass Sophia ihr erlaubt hat, die Chronik zu lesen... Und das bedeutet – oh, ich könnte mich selber strafen, dass ich das erst jetzt benenne: dass alle drei, Sophia, Cathérine und Gret, mit dieser Chronik zu tun hatten. Die eine schrieb sie – die anderen kannten sie.«
»Genau das solltet Ihr dem Bischof melden... und desgleichen im Kloster verkünden, dass jede sich zu melden hat, welche vom Inhalt der Chronik weiß. Wir müssen alle jene schützen, die zum nächsten Opfer werden könnten.«
Roesia meinte, der Kopf würde ihr zerspringen. »Aber vor wem müssen wir sie schützen? Denkst du, ein Fremder ist hier eingedrungen?... Und mordet?«
Eloïse sagte kein Wort mehr, sondern zog schweigend von dannen, um die Suche einzuleiten.
Roesia schaffte es nicht, sich daran zu beteiligen. Sie streifte durchs Kloster, um dann und wann innezuhalten und zuzusehen, wie die anderen ruhelos flatterten. Als der Abend graute, wünschte sie sich nichts anderes, als sich verstecken zu können. Längst reichte das weite, graue Land der Gedanken nicht mehr für ihre Weltenflucht, sondern sie bedurfte eines tatsächlich vorhandenen kleinen, engen Raums.
Sophia, ging ihr durch den Kopf, Sophia hat sich auch gerne zurückgezogen.
Das Skriptorium des Damenstifts war nicht so groß wie das von vielen anderen Klöstern. Es verdiente kaum den Namen, denn weder grenzte es an eine umfangreiche Bibliothek, noch taten hier eifrige Kopistinnen Dienst. Einzig die Wirtschaftsbücher des Stiftes wurden hier geschrieben – und die Annalen.
Roesia stieg mühselig in das obere Stockwerk. Die Ereignisse hatten nicht nur dem ansonsten stoischen Geist zugesetzt, sondern auch den Körper beschwert. Schnaufend blieb sie vor der Tür zu jenem heimeligen, nach Holz duftenden Raum stehen. Gut, dass sie zu niemandem sprechen musste – der Atem hätte ihr dafür gefehlt.
Als sie freilich den Raum
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