Die Chronistin
Verflechtung mit Isambour... Sie werden ihn akzeptieren und nicht weiter fragen, wer hinter ihm steht, wer ihm welche Worte zuflüstert... Er ist das Werkzeug, mit dem ich mich an ihnen rächen werde. Ha! Sie denken wohl, eine Frau sei so schwach, so zart, so haltlos, dass nur wenige stürmische Worte sie umwehen können. Doch ich bin nicht schwach, sondern biegsam. Ich ducke mich vermeintlich, um mich an ganz anderer Stelle wieder aufzurichten.
Sie hatte den Umhang abgelegt, und erst jetzt gewahrte sie, wie bedrückend still es im Haus war. Sie hasste Lärm und hatte jedem Einzelnen, der hier lebte oder seine Arbeit tat, über die Jahre eingebläut, jenen bei strenger Strafe zu vermeiden. Doch dass sich nicht der kleinste Laut vernehmen ließ – keine schleichenden Schritte, kein Klappern von Geschirr, auch nicht Cathérines Stimme, die sich trotz züchtigender Worte immer frei fühlte zu kreischen, zu lachen, zu heulen –, war befremdend.
»Théodore!«, rief Sophia und stieg die kreisrunde Treppe nach oben.
Selten war es vorherzusehen, wo er sich aufhielt – viele Stunden brachte er damit zu, Vorlesungen und Disputationen zu hören oder selbst zu halten. Oft kamen Studenten auch hierher, um sich nicht auf der freien Straße, wie so oft üblich, sondern in der angenehmen Stille des großen Hauses in der Rhetorik unterweisen zu lassen.
»Théodore!«, rief Sophia wieder.
Es ertönte keine Antwort, jedoch ein Raunen vom obersten Geschoß. Sein Klang verhieß wenig – die Stätte jedoch, von der es tönte, jagte Sophia einen Schrecken ein und ließ sie Schlimmes befürchten. Augenblicklich vergaß sie den peinvollen Nachmittag und ihren rachsüchtigen Plan, sondern nahm keuchend weitere Stufen.
»Théodore! Cathérine! Isidora! Wo seid ihr?«
Das Raunen verstärkte sich und mit ihm die unheilvolle Ahnung, woher es kam und wovon es bedingt wurde.
Als Cathérine schließlich von oben herunterkam, war Sophia erstmals froh, die Tochter zu Gesicht zu bekommen. Jene war kalkweiß.
»Was ist geschehen?«, plärrte Sophia sie an und packte sie an den Schultern. Das Mädchen war erst zehn Jahre alt, aber beinahe so groß gewachsen wie die Mutter. Aug in Auge stand sie ihr gegenüber, wiewohl es schien, als wäre ihr Blick blind und von einem schrecklichen Bild verstellt, das ihr eben vor Augen gekommen war.
»Was ist geschehen?«, rief Sophia ein zweites Mal, hob die nervöse Hand und ließ sie auf das Gesicht des Mädchens niedersausen. Meist tat sie solches, um ihr Gekreisch abzuwürgen oder sie von Théodores Seite zu verscheuchen. Heute führte es dazu, dass Cathérine endlich stockend zu sprechen begann.
»Théodore hat gesagt, dass... dass...«
»Was? Nun rede schon, dummes Mädchen!«
»Dass... dass alles sinnlos ist. Dass er nicht mehr zur Universität gehen will. Dass... dass er immer schon gemeint habe, er wolle lieber Medicus sein.«
Sophia hatte anderes erwartet: das Zeugnis einer furchtbaren Entdeckung, die Isidora und sie über all die Jahre vermieden hatten – wusste der Himmel, wie es ihnen nur gelungen war!
»Hach!«, machte sie und stieß Cathérine zurück, sodass sie mit dem Kopf an die Wand stieß. Das freilich belebte das Mädchen.
»Mutter«, stammelte sie, machte – wenngleich verspätet – die schlimmste Befürchtung wahr und brachte den Plan, mit dem Sophia das Haus betreten hatte, augenblicklich ins Wanken. »Théodore... Théodore hat sie entdeckt. Ich habe sie auch gesehen... Sag, Mutter – hast du gewusst, dass in unserem Haus eine Aussätzige lebt?«
Sophia hatte erwartet, in Mélisandes Gesicht noch grauenhaftere Spuren der Verwüstung vorzufinden als bei ihrem letzten Zusammentreffen. Fast ein Jahrzehnt war seitdem vergangen – und wunderlich, befand Sophia, dass Bertrands erste Frau überhaupt noch lebte.
Tag für Tag hatte sie in all den Jahren gehofft, dass Isidora von ihrem Hinscheiden berichten möge. Doch nicht die Klauen des Todes hatten sie aus ihrem Versteck gezerrt, sondern Théodore selbst sie schließlich dort gefunden.
Eine Woche war seither vergangen, und erst jetzt war Sophia bereit, sich dem grauenhaften Anblick auszusetzen. Sie presste ein in Öl getränktes Tuch vor den Mund, auf dass sie die verpestete Luft nicht einatmen müsste, und stellte mit einem raschen Seitenblick fest, dass ihr zumindest erspart blieb, die fortschreitende Verwesung zu bezeugen. Isidora hatte Mélisandes Leib sämtlich mit weißen Leinenbinden eingeschnürt. Selbst das
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