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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Gesicht glich einer weißen Maske, in der nur Lippen und Nasenstumpf rötlich hervorglänzten.
    »Wie... wie konntet Ihr zulassen, dass Théodore Euch entdeckt?«, fragte Sophia, und ihre Stimme klang hinter dem Öltuch erstickt.
    Beinahe rechnete sie damit, dass die andere nicht antworten würde, dass der Aussatz längst alle ihre Sinne zerstört hatte und sie nicht nur blind geworden war, sondern auch taub und stumm und verblödet.
    Doch dann hob Mélisande mit einem leisen Ächzen den Kopf. »Und wie es verhindern, wenn seine Schritte zufällig in diese Kammer führten?«, fragte sie erstaunlich klar zurück. Von ihren Gliedern mochten nichts als Stümpfe geblieben sein – ihre Zunge aber war noch heil.
    »Ihr hättet ihm verschweigen sollen, wer Ihr seid!«
    »Nun, er weiß es. Hadert nicht damit! Ich habe ihm eingebläut, es den anderen zu verschweigen. Eurer Tochter – heißt sie Cathérine? – wurde erzählt, ich sei eine arme Verwandte.«
    »Was... was wollt Ihr von Théodore?«
    Einzig um diese Frage zu stellen, hatte sich Sophia gezwungen, das grausige Krankenzimmer zu betreten. Seit Tagen nun trachtete sie, dem Stiefsohn von ihrem Vorhaben zu berichten, das die Demütigung am Königshof mildern sollte, von ihrem großspurigen Plan, ihn ins Zentrum von Macht und Einfluss zu schieben, doch er, der bislang folgsam an ihren Lippen gehangen war, verweigerte sich jedem Wort. Stattdessen wiederholte er nur jenen Satz, den ihr schon Cathérine entgegengestottert hatte. Wie sinnlos ihm seine Studien erschienen. Um wie viel lieber er Medicus geworden wäre. Mein Gott, wenn er nur geahnt hätte, dass seine Mutter noch lebte...
    Sophia hatte ihn nie über sie reden gehört. Doch seitdem er sie entdeckt hatte – eigentlich nur nach einem Raum für seine wachsenden Schriften suchend –, so schien sich seine Welt plötzlich nurmehr um Mélisande zu drehen, ein wenig ob seines Entsetzens, ein wenig ob seines Mitleids, vor allem aber, weil sie zum Sinnbild wurde, dass etwas in seinem – schon bislang oft als leidig befundenen – Leben den falschen Gang genommen hatte.
    »Auch wenn du von ihr gewusst hättest... ja, auch wenn du Medicus wärst: Du hättest deine Mutter ja doch nie vom Aussatz zu heilen vermocht!«, hatte Sophia ungeduldig geschrieen. »Genauso wenig wie du dir rückwirkend dein krummes Bein geradebiegen könntest!«
    »Ach, was gäbe ich, könnte ich zumindest ihre Schmerzen lindern! Glaubt auch nicht, Sophia, es wäre nur ihr Anblick, der mich verzagt stimmt... Ihr habt doch keine Ahnung, was sich auf der Universität zuträgt, seit die Domschulen zu dieser vereint wurden. So sehr wart Ihr mit der Dauphine Blanche beschäftigt, dass Ihr mir nie recht zugehört habt! Doch es ist dabei geblieben: Engstirnige Professoren wettern gegen Aristoteles und machen den Mutigen von einst das Leben schwer. Oh, begnadete Zeiten, da noch Thierry von Chartres, Gilbert von Poitiers oder Adam von Petit-Pont hier in Paris lehrten. Ihre Konkurrenz belebte die Wissenschaft. Sie blieben auch dann bei ihren Lehrmeinungen, wenn ein Papst eine andere vertrat. Aber daran ist heute nicht mehr zu denken... Ihr glaubt, es reicht, möglichst viel Wissen zu erwerben, denn darin liegt Euer großes Talent. Ich aber sage, dass man das Wissen auf rechte Weise verknüpfen muss – und stoße Tag für Tag damit auf Widersprüche derer, die nur engstirnige Wege beschreiten. Sinnlos ist es, alles so sinnlos, was hält mich noch an der Universität – viel besser wär’s, ich würde bei... meiner Mutter hocken, ihre Verbände wechseln...«
    Sophia hatte nicht in ihn dringen können. Nein, es war kein Reden mit ihm. Vielleicht jedoch, so regte sich nach einigen Tagen die Hoffnung, könnte ihr die jähe Rivalin um seine Aufmerksamkeit hilfreich sein, ihn wieder zur Vernunft zu bringen.
    Mutig schritt sie also zur Aussätzigen, um hier die Frage zu stellen: »Also, was wollt Ihr? Was trieb Euch dazu, mit ihm zu sprechen und Euch ihm zu erkennen zu geben, anstatt ihn einfach wieder fortzuschicken?«
    Nun, da Mélisande bewiesen hatte, dass sie ihre Zunge noch gebrauchen konnte, erwartete Sophia nüchternes Gespräch. Doch als sie zu reden begann, so scherte sie sich nicht um Sophias Frage, sondern griff unwillkürlich ein gänzlich unerwartetes Thema auf.
    »Habt Ihr davon gehört, dass bei den Aussätzigen das körperliche Verlangen übermächtig ist?«, fragte Mélisande mit gedämpfter Stimme.
    Vor Überraschung ließ Sophia beinahe das

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