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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Oberschenkel.
    Sophia senkte rasch den Kopf, auf dass sie nicht mehr als nötig von der grausigen Stätte sehen musste. Schon die Kutschenfahrt über hatte sie getrachtet, die Lederdecke fest über die Luke zu ziehen, um nichts von den armseligen Gestalten am Wegrand mitzubekommen: Prediger mit dreckstarrenden Kutten, Gaukler und Spielleute, die ihre Krätze mit Farbe übermalt hatten, Krüppel und Bettler, die aus der Ferne entlaubten Bäumen glichen und deren müdes Ächzen wie Vogelgekrächze klang. Die meisten von ihnen strömten auf die Stadtmauern von Paris zu – Sophias Weg nach draußen nahm jedoch keiner, und wiewohl sie sich Furcht vor der Fremde nicht erlauben wollte, richtete doch ein fortwährendes Unbehagen alle Härchen ihres Körpers auf.
    »Nein, die vornehmen Pariser wagen sich nicht hierher ins Magdalenenviertel... und schon gar nicht«, fuhr Luc Arnaud eben fort, »wagen sich schöne Frauen hierher.«
    Angewidert zuckte sie vor seiner erhobenen Hand zurück.
    »Wagt es nicht!«, zischte sie.
    »Aber ich dachte, Ihr wolltet mein edles Heim betreten? Es steht auf festen Mauern. Ein jeder Bewohner hat sein eigenes Kämmerchen, und obendrein brennt im Winter ein hübsches Feuer im Ofen. Freilich gibt es strenge Regeln in unserem Haus. Vor jeder Mahlzeit heißt’s, im Stehen fünf Paternoster und fünf Ave-Maria sprechen. Wenn ich, der Siechenmeister, schlafen gehe, haben es alle anderen auch zu tun, und zwei Mal in der Woche wird gebadet. Auch heute ist wieder Waschtag und...«
    »Maul halten, Tölpel!«, unterbrach sie ihn ungeduldig und blickte erstmals an seiner Grimasse vorbei.
    Sie hatte vermeiden wollen, das Leprosenhaus, auch Maladarie genannt, genauer in Augenschein zu nehmen – nun beschlich sie nicht nur Zaudern, sondern Scham. Anstelle von Fenstern waren Bretter vor die Luken genagelt und starrten sie wie blinde Augen an. Ein kleines Bächlein floss an dem Haus und der matschigen Wiese vorbei, und davor hockten etliche armselige Gestalten – nicht in weißes Leinen gehüllt wie Mélisande, sondern in graue Lumpen, wie es vorgeschrieben war – und wuschen unter Stöhnen und Jammern ihre wässernden, eitrigen Wunden und ihre Kittel. Ein jeder trug eine Rassel bei sich, um zufällig vorbeikommende Reisende vor sich zu warnen, ein Stück gegerbtes Leder um die Füße gebunden, weil es den Aussätzigen verboten war, bloßfüßig zu gehen, und an den Gürtel eine Schale gebunden, aus der sie aßen und tranken.
    »Wollt Ihr auch das Innere meines Palastes sehen?«, lachte Luc Arnaud und kratzte erneut sein Gemächt, ehe er ihr mit gespielter Verbeugung den Arm reichte.
    Erneut zuckte sie zurück. »Wagt nicht, mich anzufassen!«
    »Ach, ma Dame, habt keine Sorge um mich! Ich bin vor Ansteckung gefeit. Seit Jahren nun hause ich mit dem aussätzigen Pack unter einem Dach, und Gott hat mich vor dieser Geißel verschont. Die Finger, die mir fehlen, sind mir nicht abgefault, sondern unter die Streitaxt gekommen wie mein Gesicht. Und alles andere funktioniert recht an meinem Körper, seid gewiss.«
    »Nicht Ihr müsst mich scheuen, sondern Ihr seid’s, der mich ekeln macht!«, gab Sophia zurück. »Denkt Ihr etwa, ich sei krank?«
    Diesmal war das Kratzen nachdenklich. »Nun, der Aussatz kennt keine Standesgrenzen«, gab Luc Arnaud zurück. »Auch Könige hat’s getroffen. Und hier wird zwischen Mägden und Herzoginnen nicht unterschieden. Wie Bruder und Schwester leben wir zusammen, einander gleich und ohne Dünkel. Dafür muss keiner hungern und frieren und sich des Aussatzes schämen.«
    Sophia blickte wieder starr auf den braunen Boden. Das Schaudern von vorhin war zum Beben geraten, doch gerade darum drängte es sie, ihr Anliegen schnell hervorzubringen. So hastig kamen die Worte, dass sie jeden Anflug von Ekel, Bedauern und schlechtem Gewissen schluckten. Über jenem Plan hatte sie letzte Nacht gebrütet, war in ihrem Gemach auf und ab gegangen, hatte sich Lösungen erdacht, wie sie Mélisande loswerden könnte, und war immer, immer wieder auf diese eine gestoßen. Ihr war nicht wohl dabei. Als der Morgen graute, begann sie sich vor sich selbst zu ängstigen.
    War dieser gemeine Verrat am Pakt, den sie dereinst mit Isidora geschlossen hatte, nicht schlimmer als all die früheren Sünden? Wog er nicht noch schwerer als ihre Schuld am Klosterbrand, die Lügen über Isambour, der Mordplan gegen Bertrand?
    Zuletzt konnte sie sich vor Müdigkeit nicht länger aufrecht halten.
    Sie sank zu Bett,

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