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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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streicheln, und das war Sophia widerwärtiger als die bloße Berührung und der Anblick seines schiefen Gesichtes. Er war gewiss nicht grob. Aber es ging ihr durch den Kopf, dass der Letzte, der sie auf ähnliche Weise angefasst hatte, Frère Guérin gewesen war.
    Alsbald hatte sie Luc Arnaud grob von sich gestoßen. Doch anstelle von Erleichterung legte sich wie ein klammer Mantel Wehmut auf ihr Gemüt, Verzagtheit, weil sie plötzlich nicht mehr wusste, das Richtige zu tun.
    »Unsinn!«, rief sie laut, richtete sich hastig auf und griff zur Feder.
    Ich werde die Stärkere sein, schrieb sie auf. Ich werde nicht zulassen, dass Guérin über mich spottet. Ich werde Théodore...
    Sie legte die Feder beiseite. Es war merkwürdig still. Würde Mélisande sich dem Geschick, das Sophia ihr auferlegte, etwa tatenlos fügen? Sich ohne Gegenwehr aus dem Haus schaffen lassen?
    Sophia mochte das kaum glauben. Sie hatte erwartet, dass sie toben würde, schreien, um sich schlagen – ganz gleich, wie zerfressen und geschwächt ihr Leib war. Nun jedoch drang kein Laut von oben, kein Fußgetrappel, kein Ton vom spöttischen Arnaud.
    Eine Weile noch wartete sie, dann wagte sie, die Türe zu öffnen und zu lauschen.
    Nichts.
    Vorsichtig stieg sie nach oben, hoffend, sie müsse nur kurz bezeugen, dass alles seinen rechten Weg nahm, und könne sodann wieder in ihr Gemach fliehen.
    Als sie den Flur erreicht hatte, an dessen Ende Mélisandes Kammer lag, fand sie jedoch nicht die Aussätzige vor, sondern lediglich die Männer, die gekommen waren, sie zu holen.
    »Was steht Ihr hier rum?«, fuhr sie Luc Arnaud an und musste auf seine Narbe blicken. Noch bläulicher schien sie verfärbt, und der Pulsschlag zuckte heftig durch sie. »Warum habt Ihr sie nicht endlich fortgebracht?«
    Er lachte laut, doch es klang nicht spöttisch, sondern unruhig.
    »Hab’ mich schon auf meinen neuen Gast gefreut«, kicherte er. »Doch mir scheint’s, sie sucht meinen Palast zu meiden. Hat sich dreist meiner netten Einladung verweigert.«
    Sophia folgte seinem Blick. Mélisande war in jenen Raum gehumpelt, dessen Erker zur Straße zeigte. Das Fenster aus feinem Papier hatte sie mit dem Schlag eines ihrer Armstümpfe zerfetzt und beugte sich nun so tief, dass Sophia sie schon glaubte fallen zu sehen.
    »Gütiger Himmel! Mélisande!«, schrie sie entsetzt auf und mochte es kaum für möglich halten, dass die Kräfte der Siechenden ausreichten, um zu gehen und zu stehen.
    Ob der ungewohnten Regungen löste sich der dicke Leinenverband vom nässenden Leib. Schon entströmte ihm ekelig-süßlicher Gestank. Die Fetzen flatterten im Winde und ließen die Gestalt wie eine weiße Rauchsäule aussehen – bereit, sich zu verflüchtigen.
    Mélisande drehte sich kaum nach Sophia um.
    »Verfluchtes, verfluchtes Weib!«, zischte sie lediglich in deren Richtung.
    Panisch versuchte Sophia, die Männer in ihre Richtung zu bewegen.
    »Nun tut doch etwas!«, schrie sie.
    Luc Arnaud zuckte die Schultern. »Lasst sie springen. Das geht schnell. Und glaubt mir – für eine wie sie ist es besser!«
    Sophia hatte Mélisande erreicht, doch sie zögerte, den fauligen Leib festzuhalten.
    Mélisande lachte bitter auf. »Mein kranker Odem soll für alle Zeit Euer Leben vergiften!«, rief sie und lehnte sich noch tiefer aus dem Fenster. »Ich wünsche Euch noch viel grausamere Strafe als jene, die Gott mir aufgelastet hat!«
    Diesmal zögerte Sophia nicht, sondern packte zu, doch sie erfasste nichts weiter als einen Fetzen Leinen – und die goldene Kette mit dem roten Rubin, die Mélisande um den Hals trug und die Bertrand ihr geschenkt hatte, weil er sie nicht mehr begehrte und nie wieder begehren würde. Sie riss entzwei, als Mélisande sich fallen ließ, zwei Stockwerke stürzte und mit dem Kopf voran auf den Pflastersteinen aufprallte. Ein grässliches Knirschen und Platschen erklang, als die zarten Knochen ihres Hauptes barsten.
    »Gütiger Gott!«, stieß Arnaud angewidert aus und kratzte sich wie stets zwischen den Beinen.
    Sophia sah schon die Menschen zusammenströmen, Blut fließen und das weiße Leinen sich noch mehr im Wind zerzausen.
    »Nun macht schon!«, schrie sie die Männer an, noch ehe einer der Blicke sich prüfend hoch zum Fenster hob. Die kalte, klare Luft, die von draußen strömte, machte ihren Kopf frei. »Verschwindet – und nehmt den Hintereingang! Niemand darf wissen, dass ihr jemals hier gewesen seid!«
    Sie hatte Théodore noch nie in dieser Verfassung

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