Die Chronistin
so viel ungewohnte Höflichkeit?«, meldete sich erstmals Cathérine mit weinerlichem Ton zu Wort. »Ich bin mir gewiss – während er hier sitzt und teuren Wein sauft, kriecht die ekelhafte Ratte auf seinem Leib herum.«
»Wollt Ihr sie sehen?«, spottete Christian in Sophias Richtung.
Théodore senkte den Kopf. Sophia aber reckte den ihren noch höher.
»Denkt nicht, ich würde Ratten fürchten«, gab sie weiterhin lächelnd zurück. »Im Kloster, wo ich meine Jugend verbrachte, haben wir gar manche eigenhändig erschlagen, wenn sie daran gingen, aus Pergament Nester für die Jungen zu bauen. Und im Haus meiner Tante Bertha – da waren die Ratten reinlicher als die Menschen...«
Erstmals unterließ Christian das klirrende Lachen.
»Dann dankt Gott, dass Ihr diesem Dasein entronnen seid«, bemerkte er mit ernster Miene.
»Gewiss«, entgegnete Sophia, »das Leben, wie ich es heute führe, ist mir lieber...«
»Das denke ich mir«, sagte Christian, »wo Ihr denn auch Théodore habt, der – ganz Lakai – das tut, was Euch verboten ist. Ich frage mich freilich, ob Ihr wisst...«
»Christian!«, rief Théodore ein drittes Mal dazwischen – diesmal atemlos und streng.
Beunruhigt blickte Cathérine ihn von der Seite an. Christian aber folgte seinem Zwischenruf sogleich, unterbrach seine Rede und übertönte die unangenehme Stille, die sich über die Tafel senkte, mit einem neuen Ausbruch seines Lachens. Das Amulett, in dem er das Futter seiner Ratte trug, schepperte laut an seinem Hals und schwankte selbst dann noch auf und nieder, als er die Lippen wieder schloss und den teuren Wein daran setzte.
Missglückt deuchte Sophia dieser Abend – die Tochter jenem unseligen Vagabunden um nichts näher gebracht. Anstatt aufzugeben, lud sie zu immer weiteren Zusammenkünften, vermied es aber stets, Christians Zunge das lange Schwatzen zu erlauben. Stattdessen forderte sie die Tochter auf, von sich zu berichten.
Anfangs zeigte sich jene verschüchtert, warf Théodore, der stets bescheiden wie ein Mönch vor der reich gedeckten Tafel hockte, dann und wann fragende Blicke zu und zögerte zu sprechen. Doch als nach ein paar Wochen hinlänglich bewiesen schien, dass aus der strengen, unnahbaren Mutter plötzlich eine gesellige Frau geworden war, tat sie manches Mal den Mund auf und redete so frank und frei, wie sie ansonsten nur Théodore gegenüber plauderte.
Sophia verdrehte heimlich die Augen angesichts des nichtssagenden Geplappers, aber lud sie mit Gesten ein fortzufahren. Dann erzählte Cathérine vom Wandbehang, an dem sie webte – oh, wie war es möglich, dass ihre Finger umso viel flinker waren als das Gehirn! –, von dem Silbergeschirr, das sie glänzend putzte – oh, wie ließ sich an solcher Arbeit nur Gefallen finden! – oder von den Einkäufen, die sie mit Isidora erledigte – oh, warum wachte die halbblinde Sarazenin nur über dieses Kind, als wär’s das eigene!–.
Weder der schweigsame Théodore noch die plappernde Cathérine noch der lachende Christian schienen zu erahnen, was Sophias jähe Gastfreundschaft bedeutete. Niemand verstand, warum sie viel öfter als früher durchs Haus schlich, beobachtete und lauschte und solcherart nach Möglichkeiten suchte, wie sie die lästige Tochter dem ebenso lästigen Christian zuführen könne, um beide loszuwerden. Einzig die Sarazenin verfolgte sie mit ihrem Blick, der misstrauisch und rachsüchtig geworden war seit dem Tag, da Mélisande sich in den Tod gestürzt hatte.
Sophia versuchte, ihr nicht zu nahe zu kommen und sich dem eigentlichen Ziel zu widmen: Sie musste Cathérine davon abbringen, Christian nur Verachtung zu zeigen. Sie musste jenen bewegen, sich höflicher und weniger unflätig zu geben. Und sie musste schließlich zusehen, dass Théodore den Freund nicht daran hinderte, seine Gefühle zu gestehen.
Doch eines Tages vermochte sie der Sarazenin nicht länger auszuweichen. Noch in Gedanken an diese dummen, dummen Kinder versunken, rammte sie beinahe mit Isidora zusammen. Jene war mittlerweile uralt, aber stand aufrecht wie eine junge Frau. Kaum mehr weiße Haare durchzogen ihre schwarzen Strähnen als Sophias kastanienbraune. Einzig die Haut glich ob der Jugendjahre im trockenen, sandigen Wüstenwind gegerbtem Leder.
»Was schleicht Ihr mir nach wie der heimliche Dieb in der Nacht?«, zischte Sophia – und gewahrte jetzt erst, dass Isidora eine Schüssel trug und in dieser blutige Leinenbinden schwammen.
»Lieber Himmel! Was ist denn
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