Die Chronistin
lieben. Nimm dafür Christian.«
»Christian?« Cathérine lachte hysterisch auf.
»Ja!«, rief Sophia. »Er liebt dich. Er hätte sich dir längst erklärt – wenn Théodore ihn nicht davon abgehalten hätte. Er hält dich wohl für zu jung für solch Geständnis, für zu gefühlvoll und empfindlich.«
»Ha!«, lachte Cathérine laut. »Ha! Wenn es tatsächlich so wäre, würde Théodore niemals meinem Glück im Wege stehen. Aber so ist es nicht! Das Einzige, was Christian seit Wochen von ihm will, ist, dass er... dir die Wahrheit sagt.«
Kurz blieb Sophia sprachlos. Auch um sie herum schien plötzlich Schweigen auszubrechen. Die Menschen gingen nicht länger geschäftig und schnell, sondern blieben mit geduckten Köpfen und starrten die Keifenden neugierig an.
Für gewöhnlich ging es vor der Kathedrale Notre-Dame rege zu: Seit einigen Jahren wurde an der Fassade gearbeitet, und zu diesem Zwecke wurden Gerüste aus hölzernen Pfosten gebaut und Mörtel gerührt, Ziegelsteine mit einer Wanne hochgehoben und Details des Steinbaus gefertigt. In diesem Augenblick aber stand die Arbeit still.
»Wovon sprichst du? Welche Wahrheit soll mir Théodore sagen«, stieß Sophia aus und blickte sich zugleich wachsam um. Nicht nur Steinmetze und Mörtelträger vernachlässigten ihr Tagewerk – auch Vertreter anderer Zünfte versammelten sich am Platz: Hufschmiede, Weber, Schuhmacher. Merkwürdig gespannt schien jede ihrer Gesten, vorsichtig und bemüht, nicht aufzufallen. Da kaum einer ein Wort sagte, fiel einzig das Gegackere der Hühner auf, die nicht weit von hier auf dem Markt verkauft wurden.
Als Cathérine lachte, klang es ähnlich gackernd – und ein wenig klang es auch so klirrend und leer wie bei Christian.
»Wann hast du das letzte Mal mit der Dauphine gesprochen?«, fragte sie schließlich kühl.
Sophia starrte sie verwundert an. »Was hat das mit dir und Christian zu tun?«
»Du weißt nicht im Geringsten, was um dich herum vorgeht, nicht wahr?«, höhnte Cathérine. »So gelehrt bist du; alles schreibst du auf. Mich erklärst du für dumm und unbrauchbar und ungebildet. Und selbst erkennst du das Offensichtliche nicht!«
Sie lachte wieder, zuckte die Schultern, wollte sich umdrehen.
Kein zweites Mal gestattete Sophia es der Tochter, vor ihr zu fliehen. Während sie jedoch noch auf sie zulief, sie am Arm packen und in das höhnische Gesicht schlagen wollte, so nahm sie noch mehr wahr als das gespannte Schweigen der Menschenmenge.
Diese starrte gebannt in eine Richtung – und von dort kroch eine schwere, dunkle Rauchsäule nach oben und schwärzte den diesigen Himmel. Anstatt Cathérine festzuhalten, schlug sich Sophia die Hände vor die Nase, der Geruch begann ätzend im Hals zu brennen. Sie hustete.
»Lieber Himmel! Woher kommt dieses Feuer?«, rief sie verwirrt. »Es scheint, als stünde ganz Paris in Flammen!«
Anno Domini 1245
Damenstift zu Corbeil
Sœur Yolanthe wich nicht von Roesias Seite. Wiewohl manche Stunde vergangen war, seit sie die tote Gret entdeckt hatte – zwischenzeitig hatte die Krankenschwester sie untersucht und wie erwartet die gleiche Todesursache festgestellt wie bei Sophia und Cathérine –, schien sie sich auserwählt zu fühlen, ihr eine Stütze zu sein.
Nicht anders verhielt sich Sœur Eloïse.
»Ist Euch auch wohl, ehrwürdige Mutter?«, fragte sie ein ums andere Mal mit Blick auf Roesias bleiches Gesicht.
Ungern nur gab sie zu, wie erleichtert sie war, nicht allein zu sein. Mochten die übrigen ängstlichen und aufgeregten Schwestern ihr auch den letzten Rest an Beherrschung rauben, zeugten diese beiden doch das Trugbild, dass die Welt nicht gänzlich aus den Fugen sei, sondern sich mit besonnenen Worten erklären und lenken ließe.
Sœur Eloïse schrieb an Roesias statt an den zuständigen Bischof von Orléans, um ihn von der neuerlichen Schreckenstat in Kenntnis zu setzen. Und Sœur Yolanthe gab auf, über vergangene Schandtaten von Sophia zu sprechen, sondern mutmaßte, warum Gret ausgerechnet im Skriptorium gestorben war.
»Was«, fragte sie Roesia, »was hat Euch eigentlich veranlasst, sie eben dort zu suchen?«
Ihr Kopf fühlte sich noch taub an, aber tat nicht länger weh.
Seitdem sie vor den entsetzten Blicken der Schwesternschar in ihre Äbtissinnenstube geflohen war, fühlte sie sich – ähnlich wie in früheren schlimmen Zeiten – in wohltuenden Nebel eingepackt.
»Ich weiß es nicht«, begann jene langsam und musste die Gedanken erst sammeln,
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