Die Chronistin
Bischöfe, zu denen sich nun auch Frère Guérin zählte, der Schatzmeister des Königs und Barthelemy le Roys, lange Zeit Guérins erbittertster Rivale um des Königs Gunst, nun, nach Bouvines, in die zweite Reihe verwiesen. Auch Blanche und Louis waren zugegen, jedoch schweigend, fast verlegen. Sie beteiligten sich nicht an dem Gespräch, in das ein jeder hektisch Brocken warf, um den angespannten König abzulenken.
Lange sprachen sie von Henri Clément, der am längst vergangenen, jedoch entscheidenden Tag des Turniers Sophias Gegenspieler gewesen war. Er war bei Bouvines gefallen.
Sie fühlte keinen Triumph – und der König wiederum bezeugte keine Trauer. Starr blickte er noch immer auf Isambour, lustlos, gelangweilt – und irgendwie auch mürrisch.
Vielleicht ging ihm durch den Kopf, wie viel Kraft er nutzlos an diesen Kampf gegen Isambour verschwendet hatte. Vielleicht ging ihm die Frage durch den Kopf, die Sophia sich tausend Mal gestellt hatte: Was hatte sie in der Hochzeitsnacht getan, ihn solcherart gegen sich aufzubringen? Wie nur konnte sie die jahrelange Feindschaft zeugen?
Jedem stockte der Atem, als er plötzlich aufstand, sich ihr näherte, schließlich vor der Königin stehen blieb. Sophia wagte kaum aufzublicken. Ganz gleich, was Gret sagte, – war es möglich, dass aus dem alten, einfältigen Weib ein schreiendes, kreischendes, tobendes würde, wenn er sie nur anfasste?
Der König schien die befürchtete Berührung erproben zu wollen. Schon hob er die Hand. Schon näherte er sich zögernd dem faltigen Gesicht, das unverborgen von einem Schleier war. Doch anstatt zuzufassen, wichen seine Finger schließlich zurück. Kaum merklich war er zusammengezuckt – vielleicht voll Ekel bei dem bloßen Gedanken, ein weiteres Mal bei dieser Alten liegen zu müssen, vielleicht ob der unschönen Erinnerung, die er mit niemandem als mit Agnèse geteilt hatte, und jene war lange tot.
Erst als er sich entfernte, entspannte sich sein Körper. Rasch hob er die Tafel auf, um möglichst bald den weichen Leib seiner Geliebten Marguerite zu gebrauchen und zwischen ihren Schenkeln Vergessen zu finden.
Abschließend freilich sprach er noch etwas – nicht zu Isambour, sondern zu der Runde: »Ganz Frankreich denkt, dass ich ab diesem Tag wieder das Bett mit der Königin teile. Wisset, ich tue es nicht. Sorgt aber dafür, dass niemand davon Kundschaft bekommt.«
Sprach’s, wandte sich ab und ging.
Frère Guérin schien mit dem Verlauf der Tafel zufrieden zu sein. Schmallippig war sein Lächeln, aber ohne Zweifel vorhanden.
Wie merkwürdig, ging es Sophia durch den Kopf, dass wir geeint sind wie einst – in der Sorge, dass Isambour nicht auffalle und der König sie nicht verstoße...
Jäh schmeckte sie die Erinnerung an die Hochzeitstafel, daran, dass Frère Guérin den Weinkelch rechtzeitig gehalten hatte, dass er ihr damals so willensstark erschienen war, besonnen und überlegt.
Und jetzt saß sie beinahe an gleicher Stelle neben der Königin – nein, nicht an gleicher Stelle. Einst hatte sie um ein Leben und eine Zukunft gekämpft und dafür sogar in Kauf genommen, eine Schwachsinnige zu lenken. Heute lagen dieses Leben und diese Zukunft in Scherben, und ihr Verhalten – vor Monaten von Guérin angeraten – war das letzte Mittel, beides notdürftig zu kitten.
Oh, schwacher, verrückter Théodore!, haderte sie. Was muss ich auf mich nehmen, damit du bei Hofe wieder Gnade findest!
Schwerer noch als dieser Gedanke wog die Angst, dass er solches Opfer gar nicht wollte, dass er längst abgeschlossen hatte mit der gelehrten und der königlichen Welt. Seit der Flucht hatte sie nichts gehört – weder von ihm noch von Christian Tarquam.
Um der eigenen Ohnmacht Herr zu werden, hob sie entschlossen den Weinkelch und hielt ihn herausfordernd vor Frère Guérins Gesicht.
Mochte jener auch geschafft haben, seine Ziele zu erreichen und sich der Erinnerung an die schwache Stunde zu entledigen – sie wusste dennoch, dass er einst mit dem heute so bewunderten König gehadert hatte und dass sein Widerwille so groß gewesen war.
Frère Guérin bemerkte sie nicht.
Stattdessen streifte Blanches Blick sie flüchtig. Doch anstatt ihr Anerkennung zu zollen, dass Sophia der Königin am heutigen Tage beigestanden und ihr den Platz am Hofe gesichert hatte, wandte sie sich wortlos und unversöhnt von ihr ab.
Anno Domini 1245
Damenstift zu Corbeil
Die Kirche war der hellste Ort im ganzen Stift. Selbst mitten in der Nacht
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