Die Chronistin
dass ein Blinder so dicht an Mathieu de Montmorencys Pferd geraten wäre, dass die Hufe seinen Kopf erfassten und ihn auf dem sauber gefegten, mit Blumen bestreuten Weg zermalmten. Eifrig unterließen es daraufhin manch jungfräuliche Maiden, ihre Blumenkränze zu schwenken oder ihre funkelnden Metallreifen und bunten Bänder aus dem Haar zu ziehen, um damit dem königlichen Zug zuzuwinken, sondern stiegen zur Seine hinab, füllten zwei, drei Eimer und schwappten das Blut und das weißliche Gehirn des Toten von der Straße, auf dem sich bereits schwarze, fette Fliegen versammelt hatten.
An mancher Stelle der Stadt erklang nicht nur freudiges, wiewohl wirres, unverständliches Gerufe, sondern man konnte auch Psalmen hören. Geistliche in ihrem schwarzen Gewand brachten den Gesang dar und folgten damit dem Beispiel von Guillaume Le Breton. Des Königs liebster Troubadour war in der Schlacht vorausgeritten, hatte gleichsam die biblischen Verse auf den Lippen getragen und somit Gottes Gunst erworben, dank derer dem deutschen Otto und dem englischen Jean sans Terre die vernichtende Niederlage zugefügt worden war. Ein sichtbares Zeichen, auf wessen Seite der Allmächtige stand, war vor allem, dass der Reichsadler in Philippes Hände gefallen war. Gemäß des Pakts, der geschlossen worden war, hatte Frankreichs König das erstohlene Gut nach der Schlacht an Friedrich II. den Staufer weitergegeben, um zu besiegeln, dass jener endgültig Kaiser wäre und auf immerdar ein Verbündeter des erstarkten Frankreich.
»Seht!«, zischte eine der Damen erregt. »Seht! Dort vorne! Das Banner des Königs! Er ist nicht weit. In Bälde wird er hier sein – uns zu grüßen.«
Sophia warf einen raschen Seitenblick auf Isambour, die völlig starr und ungerührt stand und Grets Worte bestätigte, wonach sie niemals wieder in das unmenschliche Gebrüll ausgebrochen war. Vielleicht war es das fehlende Augenlicht, das sie vor den ungezähmten Ausbrüchen ihres Geistes bewahrte, weil es ihr die bedrohliche Welt schlichtweg nicht zeigte.
Trotzdem dachte Sophia, dass es ratsam war, sie erneut auf den eigenen Plan einzuschwören. Vorsichtig nahm sie ihre Hand und drückte sie sanft. »Isambour«, sprach sie mahnend wie vorhin auf sie ein, »ganz gleich, ob Ihr mich hören könnt oder nicht, ganz gleich auch, ob Ihr wisst, wer ich bin – tut, was ich sage! Befolgt meinen Willen!«
Die schlaffe Hand regte sich nicht. Nichts von der Festigkeit, mit der sie sich vor vielen Jahren kreischend an Sophia festgeklammert hatte, war zu erspüren – zugleich aber auch kein Aufbegehren. Das einstige Vertrauen in Sophias entschlossenen Griff war nicht aufgekündigt, gleichwohl Isambours Gret nicht aufhören wollte, Sophia wüste Blicke zuzuwerfen.
Schon deuteten die lauter werdenden Schreie an, dass der König soeben die Seine überquerte. Mild floss jene heute und tobte nicht wie einige Jahre zuvor, da ihre Fluten zur Herbstzeit ein paar Dutzend Häuser mit sich gerissen hatten und deren Bewohner jämmerlich ersoffen waren.
Als Sophia ihn endlich selbst erspähte, pochte ihr das Herz bis zum Hals. Noch galt es freilich zu warten, denn ehe Philippe Auguste zu den wartenden Damen steigen würde, trat ihm der Bischof von Senlis entgegen, welcher kein anderer als Frère Guérin war. Er war der zweite Held des Tages, weil er den König in Bouvines zur sofortigen Schlacht gedrängt hatte, indessen die anderen Berater zaudernd davon abgeraten. Guérin hatte sich durchgesetzt, Recht behalten und war mit der Bischofswürde belohnt worden.
Eben kniete er in gewohnter Weise vor dem König nieder, der ihn sogleich – zum Zeichen des Dankes und des Respekts – aufstehen ließ, um sich nun seinerseits vorzuneigen und ihm den Ring zu küssen. Vorhin, als sein Blick über die Tribüne gestreift war, hatte Sophia Frère Guérin strikt ignoriert. Jetzt verfluchte sie ihn im Stillen – neidisch auf den Triumph, den er erlebte, neidisch, dass sich sein Leben, sein Setzen auf den König derart gelohnt hatten. Sie war geneigt, seine Aufmerksamkeit zu erzwingen, da gewahrte sie, wie der König von ihm zurücktrat und nun hoch zu den Damen stieg – zwei Stufen auf einmal nehmend, rot verschwitzt von Sonne und brüllender Menge. Es war das erste Mal, dass Sophia ihn anders sah als fahl und ungesund.
Ein Ruck ging durch die wartenden Frauen – unmerklich wandten sich alle Blicke Isambour zu, gewiss nicht deutlich, weil kein Urteil erlaubt schien, ehe der König eines
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