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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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warfen Kerzen ein heimeliges Licht. Der Duft des Bienenwachses vertrieb den süßlichen Geruch des Todes, der sich in den grauen Ecken eingenistet hatte. Zuerst war er Cathérine entströmt, jetzt Gret. Nur Sophias Leichnam war zu vertrocknet gewesen, um zu riechen.
    Roesia – entschlossen, Sophias Chronik zu finden – verharrte jedoch nicht vor dem Altar. Ihre Schritte waren so leise wie zielgerichtet. Sie folgte ihnen, ohne darüber nachzudenken, beseelt einzig von dem Willen, sich entgegen bisheriger Gewohnheit umzudrehen, sich das gnädige Vergessen nicht zu gestatten, in der Vergangenheit zu wühlen.
    Die Stätte dieser Vergangenheit war modrig, staubig und finster. Im schwachen Luftzug, den Roesia mit sich brachte, tänzelten die weichen Spinnweben und streiften ihr Gesicht.
    Sie stieg einige schiefe Stufen hinunter in die Krypta, und von dort war es nicht schwer, in jenen geheimen Raum zu gelangen, der sich unmittelbar unter dem Altar befand. Nachdem die Schwestern die tote Sophia dort entdeckt hatten, hatte niemand mehr gewagt, ihn durch den schmalen Spalt zu betreten. Unberührt stand noch der Stuhl, auf dem die Tote gehockt hatte. Der Raum war weder mit Stein noch mit Fliesen ausgelegt – gewiss weil es nicht vorgesehen war, ihn zu betreten.
    Vielleicht, so überlegte Roesia, hatten hier die Gebeine eines Heiligen geruht, in deren Gegenwart man in der Krypta betete. Unüblich war’s zwar, solche wieder auszugraben – jedoch nicht undenkbar. Das benachbarte Männerkloster konnte sie gefordert oder eine geschäftstüchtige Äbtissin die teuren Reliquien verkauft haben, um das Stift durch schwere Zeiten zu führen.
    Sei’s drum.
    Roesia hob die Öllampe, ließ sie die niedrigen Wände entlanggleiten, suchte nach Stellen, wo die Steine nicht dicht nebeneinander standen, sondern Zwischenräume glotzten.
    Bei all dem ging ihr immer noch kein vernünftiger Gedanke durch den Kopf, der das eigene absonderliche Tun erklärte – nur Richildis Stimme, wie sie ihr vorwarf, dass sie all das unangenehme Gestrige aus dem Gedächtnis schaben würde, und jene von Sœur Yolanthe, die sich überrascht gefragt hatte, warum Sophias engste Vertraute nichts von der zweiten Chronik wusste.
    Und davon, dass sie die erste verbrannt hatte.
    Dem fragenden Blick ausgesetzt, war in Roesia kein Bild aufgestiegen, das ihre Anwesenheit zu jener Stunde bezeugte. Nun aber, im kargen Schein der Lampe, waren die Flammen von einst heraufbeschworen, prasselnd und fauchend und jedes Blatt verspeisend, das Sophia ihnen seelenruhig hingehalten hatte.
    »Nicht!«, hatte Roesia entsetzt geschrieen, als sie sie dabei überrascht hatte. »Nicht! Wie kannst du nur dein Lebenswerk zerstören? Wie das kostbare Pergament zum Raub des Feuers machen?«
    Sophia hatte sie nicht angesehen. Ihre Bewegungen waren steif gewesen, unnahbar – und willensstark. Der schwarze Rauch war ihr ins Gesicht gestiegen.
    »Du verstehst das nicht«, hatte sie schließlich erwidert. »Dies ist nicht, was ich von meinem Leben hinterlassen möchte.«
    »Aber wie kannst du...«
    »Schweig! Sei still! Ich weiß, wie grässlich es ist, wenn Bücher brennen – ich habe es erlebt, und die Ohnmacht schmeckt bis heute bitter. Aber dies hier, dies lohnt nicht, aufbewahrt zu werden. Genügend andere gibt’s, erfahrene, gelehrte, wissende Männer, die Gleiches aufgeschrieben haben. Was braucht es mein Zutun?«
    Ihre langen, feingliedrigen Finger waren über dem Feuer rot geworden.
    »Was aber willst du stattdessen hinterlassen? Soll nichts bleiben von einer klugen Frau wie dir?«
    Sophia wandte sich um, und der Schein der fuchtelnden Flamme war so grell, dass er die Furchen ihres Gesichts glättete und sie so jung war, als hätte sie alle Zeit der Welt, das Leben neu zu bestimmen.
    »Ich werde eine Chronik schreiben, wie es sie noch niemals gab«, bekundete sie, und das Lächeln, das diesen Entschluss begleitete, war warm und glühend wie das Feuer.
    Roesia trat näher an die Wand, tastete Stein um Stein ab und suchte einen, der nur locker neben den anderen stand, sich lösen und herausschieben ließe. Die Spinnennetze standen hier nicht fein und weich wie Seidenfäden, sondern klebrig. Und das, was da an ihren Füßen raschelte – waren es Ratten oder Fledermäuse?
    Roesia ließ sich nicht beirren. Sie suchte, stöberte, wühlte. Kleine Ecken zerbröselten und rieselten wie Sand auf sie herab. Sie schmeckte ihn im Mund, dachte an den Tod des kleinen Bruders Guillaume, fand

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