Die Chronistin
schließlich – just in dem Augenblick, da sich die Konzentration nicht gänzlich auf Sophias zweite Chronik ausgerichtet hatte – den lockeren Stein.
Er war schwer, aber mit festem Griff konnte sie ihn hinausziehen. Unangenehmer war’s, sodann die Hände tastend in das dunkle Loch zu stecken. Schon vermeinte sie, dass die Zähne eines aufgestöberten Nagetiers in ihre Finger hacken würden. Stattdessen stieß sie auf die weichen Seiten eines Buchs und zog es heraus.
Rasch ließ sie die Öllampe kreisen, um zu sehen, ob es noch brauchbar war, ob die Schrift nicht längst vergilbt war. Die Ränder waren tatsächlich ausgetrocknet, zerbröselten wie vor kurzem Sophias Haut. Die Buchstaben aber waren noch deutlich, reihten sich zu Wörtern, zu Sätzen, zu Geschichten.
Roesia hatte nicht die Absicht gehabt zu lesen – nun tat sie es doch so wissbegierig, wie sie alle jene Schriften aufgesaugt hatte, die sie von Sophia je erhalten hatte. Lesend kehrte die Erinnerung zurück. So mühelos wie sie die verschollene Chronik gefunden hatte, fiel ihr ein, dass sie sie schon einmal studiert hatte – als Erste von allen. Vor Cathérine. Vor Gret.
Jäh fuhr sie herum. Ein Luftzug ließ Staub, Sand und Spinnweben aufstieben; der Schein ihrer Lampe wurde von einem zweiten verstärkt. Schon hörte sie Schritte, schon eine Stimme, die ihr andeuteten, dass sie nicht mehr alleine war.
»Mutter Äbtissin«, fragte jemand, »seid Ihr hier?«
Kapitel XVI.
Anno Domini 1218
Aus der Chronik
Auf dass er ihm in Paris nicht lästig werden konnte, schickte Philippe seinen Sohn in den Süden. Dort sollte sich der meist vom Pech verfolgte Erbe im Kampf gegen die aufrührerischen Grafen von Toulouse nützlich machen und gottgefällige Taten vollbringen, nämlich das Morden der Katharer.
Schon viele fahre zuvor hatte Papst Innozenz einen Legaten in den Süden Frankreichs entsandt, wo die mächtigen Grafen von Toulouse herrschten. Gefährliche Irrlehren hatten sich dort ausgebreitet – und der Papst versuchte, ihnen den Boden zu entziehen. Doch Raimund VI. von Toulouse ließ lieber den Legaten ermorden, anstatt zur Rechtgläubigkeit zurückzukehren. Nun freilich drohte ihm Schlimmeres: Ein Kreuzfahrtheer, bestehend aus Bischöfen und Grafen, zog in den Süden, darunter der Ritter Simon de Montfort, der in Béziers die ganze Einwohnerschaft ausrottete. »Gott kennt die Seinen!«, antwortete er auf den Einwand, warum er auch gute Katholiken mit verbrannt habe.
Damit nicht jener allein sich diese Heldentaten zusprechen konnte, schickte Philippe ihm Louis – längst witternd, dass er Frankreich noch größer machen konnte, wenn er den Süden dazugewann.
Oft war Blanche darum allein. Kurz nach Bouvines war sie mit dem Söhnchen Louis niedergekommen. Doch die Knaben, die folgten – Robert und Jean –, gebar sie in Abwesenheit des fernen Vaters.
Die Damen des Hofs hockten im Halbkreis um Sophia. Ungern hatten sie anfangs die Verfemte in ihrer Gesellschaft dulden wollen, doch schließlich hatte – mehr noch als ihr Einsatz für Isambour – ihr großes Wissen um die Heilkunst sie mit ihnen versöhnt.
Von Sophia ließ sich erfahren, was sie niemals beim Bader erfragt hätten. Jener konnte gut die Zähne ziehen – nicht aber Auskunft geben, wie sich das Verlangen eines Mannes dämpfen ließ.
Das zumindest wollte heute Rosalinde wissen, die mit dem Backmeister des Hofs verheiratet war und sich ekelte, wenn er sich mit rot verschwitzter, aufgedunsener Haut am Abend zu ihr legen wollte.
»Denn seht«, klagte sie, »er weigert sich, zuvor in den Zuber zu steigen und sich gründlich abzureiben. Nass glänzt seine Haut vor Schweiß, weil’s in der Backstube niemals abkühlt.«
»Nun«, warf eine ein, welche Alix geheißen ward, »dann musst du vierzig Ameisen im Saft der Narzisse kochen und ihm heimlich unterschieben.«
»Wie sollt ich?«, fragte Rosalinde gereizt. »Er isst mir nichts anderes als weiches, weißes Brot. Und hat darob schon schwarze Stummeln im Mund anstatt Zähne.«
»Aber ich habe gehört, dass die Ameisen...«
»Unsinn!«, meldete sich Sophia zu Wort und zog die Aufmerksamkeit mühelos auf sich. Die hohen, schrillen Stimmen der Damen setzten ihr an manchen Tagen zu. Doch leichter war es, diese zu ertragen, als die nicht enden wollende Langeweile an der Seite der stummen Isambour und der rachsüchtigen Gret.
Auch war es angenehm zu wissen, dass sie zumindest das Zutrauen von Blanches Damen gefunden hatte, wiewohl jene
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