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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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derart zur Hast gedrängt.
    »Was redest du denn da, Mädchen?«, hatte er gemurmelt und lauschend überlegt, ob ihre Worte das böse Gewitter womöglich noch mehr anfachten.
    »Ich behalte alles, was ich einst gelesen habe, auf ewig im Gedächtnis. Ich bin nicht wie andere Menschen, die vergessen!«, schrie sie.
    Am Ende wusste sie nicht, was ihn mehr einschüchterte – ihre Gabe oder ihr zorniges Toben. In jedem Falle entschied er, sich allein vor dem Gewitter zu verkriechen und sich weder des Himmels noch der Vettern Zorn zuzuziehen. Er öffnete die Tür, lieferte sie den wütenden Verwandten aus – und schließlich den Reisighieben der schnaufenden Tante Bertha.
    Erschöpft und ächzend fiel jene schließlich nieder und streckte die schweren Füße von sich wie ein Straßenköter, der sich auf dem Rücken wälzt. Auch die Vettern ließen Sophia los, erwartend, dass sie mit gleicher Erschöpfung niedersinken möge. Sie aber stand starr. Sie versuchte nicht, den blutenden Rücken zu verbergen.
    Einen Tag schwieg sie, den zweiten ebenso. Am dritten kam das Fieber – aber nicht einmal da glitt ihr ein Stöhnen über die Lippen. Keiner wusste, warum es in ihrem Körper wütete – weil sie zu lange im Unwetter gelaufen war oder weil die Striemen am Rücken eiterten. Heiß glühte ihre Stirne, die Sinne schwanden ihr, die Lippen waren aufgesprungen und rau – aber weder klagte sie, noch bat sie um Wasser, noch flüchtete sich der Geist in Fantasien und Träume. Er war schlichtweg nicht vorhanden. Als das Fieber sich senkte und eine von Berthas Töchtern, die von der Mutter die Dummheit geerbt hatte, nicht aber die Bösartigkeit, mit schalem Wasser ihre Lippen benetzte, von denen die Haut ebenso in Fetzen hing wie vom geschundenen Rücken, so waren ihre Augen glasig und blicklos. Die Tante Bertha erfreute sich daran. So hatte sie die Aufmüpfige eben zur Idiotin geprügelt. Die Vettern lachten mit schiefen Augen und zahnlöchrigem Mund.
    Nur die Base belauerte die reglose Sophia mit Schaudern. Hatte ihr das Fieber gar die Seele aus dem Leib gefressen, sodass jene im Höllenfeuer schmorte? War ihr Gemüt verstümmelt so wie die schwarze Gestalt des geächteten Vaters?
    Die Base ahnte nicht, dass Sophia an dessen Geschick mehr Gedanken verschwendete als je zuvor, seitdem sie das Kloster verlassen musste, dass sie an dessen fehlende Glieder dachte, die er im Kampf gegen die Welt verloren hatte. War sie verflucht wie er? Oder verhielt es sich einfach so, dass Auflehnung stets scheiterte, stets bestraft wurde?
    Dieser Verdacht tat noch mehr weh als der geschundene Rücken. Sie sprach jedoch immer noch kein Wort, um den dumpfen Schmerz zu benennen, der in ihr wütete, sodass die ratlose Base schließlich Arnulf zur Hilfe rief.
    Jener kam mit gesenktem Blick. Wiewohl beschwichtigt, dass das gefährliche Fieber längst aus dem Körper gefahren war, setzte ihm der Anblick der Schweigenden zu.
    »Was hast du nur, Mädchen?«, stotterte er, sah sich misstrauisch um und schien nichts lieber zu wollen, als die dreckige Kammer so schnell wie möglich wieder zu verlassen. »Und was meidest du erneut die Rede?«
    Sophia rührte sich nicht.
    »Ei, damit kannst du doch nichts erreichen. Es ist auch nicht so, dass mir dein Wohl gänzlich gleich wäre...«
    Sie hob den Blick nicht.
    »Gewiss, ich kann dir keine Heirat bieten... ich will es nicht, ich bin doch schon zu alt dazu. Karins Zänkereien habe ich seinerzeit gut ertragen können, da war ich jung und frisch. Aber suche ich mir nun vorzustellen, wie oft ein starkes Mädchen wie du böse Worte machen würde... und du tätest es gewiss. Hast’s mir doch an diesem Tag bewiesen, als die Vettern dich holen kamen. Hast gar nicht wieder schweigen wollen, wiewohl es einem alten Mann wie mir doch reicht, wenn ihm die Krankheit und die Gebrechlichkeit zusetzen!«
    Sie blieb stumm und ohne Widerspruch.
    Ein wenig nur zuckte der Nacken.
    »Sophia! Hör mir zu!«, redete er eindringlich auf sie ein, »Gewiss hab’ ich Verständnis, erträgst du diese Heimstatt nicht. Aber es steht mir nicht an, ein schlechtes Wort über deine Tante Bertha zu verlieren. Es ist ihr Recht, dich zu strafen, wenn du nicht gehorchst – und niemals habe ich dich angespornt, dich ihr zu widersetzen.«
    Tonlos, aber nicht mehr mit dem glasig-leeren Blick richtete sie sich auf und drehte ihm den Rücken zu. Angewidert wich Arnulf zurück. Die Wunden hatten sich kaum verschlossen, und der Eiter war zur bräunlichen

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