Die Chronistin
dieser reichen Welt!«, warf sie alles ins Gewicht, was sie zu bieten hatte. »Das, was ich hier in diesem Haus zu lesen bekam, verlässt niemals wieder mein Gedächtnis. Die Zahlen Eures Handels sind mir einverleibt, desgleichen wie alle Worte in fremden Sprachen. Ich kann Euch helfen, Euren Reichtum noch besser zu verwalten. Ich kann alle Geschichten Eures Lebens aufschreiben. Ich kann alles über Krankheiten und deren Heilung erfahren und hernach an Eurem armen Leib erproben. Und falls Ihr fortan davon Nutzen tragen wollt, so tretet endlich vor die Tür, jagt diese Tölpel zum Teufel und bekennt Euch zu mir als Eurer Frau!«
Anno Domini 1245
Damenstift zu Corbeil
»Ja, ich habe Sophia verachtet! Ich habe sie für das bösartigste aller Weiber gehalten!«
Sœur Clarisse, die einstmals Cathérine geheißen hatte, fiel selten auf, dann aber mit Dreistigkeit und unangenehmer Stimme. Sie wetteiferte mit der Äbtissin nicht um Macht und Einfluss – genoss es aber, beizeiten zu beweisen, dass sie ihr beides streitig machen könnte, wenn sie denn nur wollte. Und heute, da sie alle im Refektorium versammelt waren, um hier den schrecklichen Fund einer Toten zu ergründen, wollte sie das offenbar nur allzu gerne.
Widerwillig drehte Roesia den Kopf in jene Richtung, aus der die zänkische und irgendwie auch höhnische Stimme gekrochen kam, und schalt sich im Stillen, Cathérine vergessen zu haben.
Cathérine war Sophias Tochter. Es wäre klüger gewesen, ihr als Erster mitzuteilen, dass man die tote Mutter mit einem Strick um den Hals gefunden hatte, anstatt sie zu einer von vielen abzustempeln.
Gewiss, es war allseits bekannt, dass Cathérine ihre Mutter nie gemocht hatte. Wiewohl Roesia viel später als die beiden dem Damenstift beigetreten war, hatte sie oft vom Hass reden gehört, mit dem die Tochter die Mutter verfolgte, und dem Unwillen, mit dem diese das Zetern der anderen hatte über sich ergehen lassen. In den letzten Jahren vor Sophias Verschwinden hatte sich das Zerwürfnis gelegt – vielleicht ob geheimer Versöhnung, vielleicht (was Roesia wahrscheinlicher deuchte), weil keine der beiden mehr Lebenskraft an die andere verschwenden wollte: Die eine brauchte sie zum Schreiben ihrer geheimen Chronik; die andere zum Essen. Das tat Cathérine allzu gerne, und nur weil sie einem so zähen, dürren Leib wie dem von Sophia entstammte, war sie trotz ihrer Fresslust bislang von Dickleibigkeit verschont geblieben. Einzig das einstmals schlaffe Kinn stand wie ein Fettkranz vom Halse.
Nun hob und senkte sich die pralle, rosige Haut unter aufgeregtem Atem.
Mein Gott, schimpfte sich Roesia erneut, ich hätte sie zur Verschwiegenheit verpflichten sollen. Nun mag sie mit all dem Missmut, der stets der Mutter galt, noch mehr Verwirrung stiften!
Noch ehe sie beschwichtigend eingreifen konnte, fuhr Cathérine wie befürchtet fort.
»Ich bin nicht die Einzige, die diese Verachtung schmeckte!«, rief sie triumphierend. »In unserem Haus des Herrn gibt es genügend Seelen, die Sophia mit Hass verfolgten. Es sollte mich nicht wundern, wenn eine von ihnen die Alte in jenen engen Raum gesperrt und sie dort erwürgt hätte. Dies wäre noch ein gnädiger Tod für eine wie sie, werden sich mehr Frauen als nur ihre Mörderin denken. Noch schrecklichere Strafe hätte sie verdient für ihre Untaten, als dass sie obendrein so lebenssatt von der hiesigen Welt ziehen konnte.«
Cathérine lachte freudlos. Die jüngeren Schwestern stießen einander tuschelnd in die Seiten.
»Genug!«, tönte Roesia streng. »Du machst dich doch nur selbst verdächtig, ziehst du den Namen deiner Mutter in den Schmutz.«
»Das tue ich nicht!«, fegte die andere herrisch den Einspruch fort. »Ich habe sie zwar nie zu lieben vermocht – aber ich habe meinen Frieden mit ihr gemacht. Was freilich nicht heißt, dass mir die anderen in diesem Beispiel gefolgt wären. Ich verstehe es. Denn Sophia hat manches, aber nicht alles von dem gutmachen können, was sie in ihrem Leben angerichtet hat.«
»Was willst du damit sagen?«, rief Roesia und fühlte, wie ihr die Geduld schwand. »Dass du zuletzt zu versöhnlich gestimmt warst, um sie zu morden – einer anderen jedoch das gute Recht darauf zugestehst?«
»Nie wünschte ich, dass sie ermordet werde. Allein aus früherer Verachtung hätte ich es ihr niemals gegönnt, sich von der Welt zu stehlen. Ich glaube nicht, dass sie in den letzten Jahren noch rechte Lust aufs Leben hatte. Vor allem nicht, nachdem sie
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