Die Chronistin
Chronistin.
Roesias Gedanken aber fühlten sich leer an. Es war wie in längst vergangenen Zeiten, als ihr das Klosterleben noch keinen Schutz vor der gemeinen Welt geboten hatte und sie sich in einen grauen Dämmerschlaf flüchten musste, um den rauen Tücken des Alltags zu entgehen. Wenn sie später daraus erwachte wie aus einem bösen Traum, so war sie stets verwundert, dass in der Zwischenzeit nicht nur wenige Stunden vergangen waren, sondern Tage, manchmal sogar Wochen.
Oh, was gäbe sie, wenn sie auch die kommende Zeit derart unberührt überdauern könnte, um irgendwann festzustellen, dass die Schrecknisse dieser Tage – das Auffinden der toten Chronistin und die Ermordung von deren Tochter Cathérine – längst der Vergangenheit angehörten, das unaufgeregte Heute aber wieder einem gemächlichen Trott folgte!
»Sœur Clotilde hat Cathérine in ihrer Zelle gefunden«, erzählte Eloïse. »Sie hockte beinahe so, wie man Sophia, ihre Mutter, vorgefunden hat, in sich versunken und mit geöffneten Armen. Jemand muss ihr das Seil rückwärts um den Hals gezogen und sie damit erwürgt haben, ohne dass sie hätte Widerstand leisten können. Die Krankenschwester hat bereits die Spuren untersucht...«
Roesia starrte sie mit glasigen Augen an, und ihr sonst so nüchterner Geist versuchte, sich gegen das Gehörte zu wehren.
»Es ist genau die gleiche Weise«, fuhr die andere fort, »wie Sophia getötet wurde. Ihr Mörder ist auch der von Cathérine.«
Roesia gab vor nachzusinnen, aber fand inmitten des zähen, grauen Nebels nichts Nützliches.
»Ihr müsst vor die Schwestern treten und sie zur Ruhe anleiten! Es gehen bereits schauderlichste Gerüchte um!«, drängte Eloïse. »Man spricht von einem Fluch, der Sophia gegolten habe – und dass sie jenen auf die Tochter vererbt hat.«
Roesia fuhr auf, und der aufsteigende Zorn gab ihr etwas Wachheit wieder. »Und was soll ich dagegen tun?«, rief sie verbittert. »Ei freilich werden sich dunkle Geschichten erzählt bei alldem, was da über uns gekommen ist. Wen sollte das wundern stimmen? Sophia ist vor fahren verschwunden und mit ihr die Chronik, an der sie geschrieben hat. Nun findet man sie tot in einem geheimen Raum hinter dem Altar. Cathérine, die ihre Tochter ist, sie zwar ihr Leben lang hasste, aber doch vor allen anderen behauptet hat, den Inhalt der Chronik zu kennen, ist wenige Stunden später ebenfalls tot... ermordet!«
Eloïse nickte betrübt. Für gewöhnlich zeigte sie Gefühle so wenig wie Roesia selbst... oder wie es Sophia zu ihren Lebzeiten gehalten hatte. Oft hatte Roesia sich ihr schwesterlich vertraut gefühlt: Gleich ihr war Sophia durch sämtliche Stürme des Lebens gegangen, ohne den wachen, gebildeten Geist jemals ins Chaos reißen zu lassen. Es war für Roesia stets ein Trost gewesen, dass es mit Sophia eine Verbündete auf dieser trostlosen Welt gegeben hatte.
»Denkt Ihr«, fragte Eloïse eben, »denkt Ihr, dass es ihr Wissen um die Chronik war, das Cathérine das Leben gekostet hat? Denkt Ihr, jemand wollte verhindern, alles auszuplappern?«
Roesia zuckte die Schultern. »Und wenn es so wäre... ich wünschte nur, all diese dummen Schwestern schürten nicht noch dümmere Gerüchte.«
»Gewiss«, sagte Eloïse hastig, »aber wir beide können uns doch Gedanken machen. Was wisst Ihr über Sophias Leben? Was davon könnte sie niedergeschrieben haben? Und was davon ist ein solch großes Geheimnis, dass es niemals ans Licht kommen soll?«
Roesia starrte versunken vor sich hin. Sophia hatte niemals viel über sich erzählt – aber jeder wusste, dass sie mehr erlebt hatte als alle anderen Schwestern. Verschiedenste Geschichten waren in Umlauf, genährt von der Tatsache, dass sie die ersten Jahre im Damenstift an der Seite der Königinwitwe Isambour zugebracht hatte. Jene aber war für sich genommen bereits eine Legende, der man sich nur mit größter Ehrfurcht näherte.
»Ich habe mich nie für Sophias Vergangenheit interessiert«, bekannte Roesia hastig. »Das Einzige, was für mich zählte, war das große Maß an Wissen, das sie sich angeeignet hatte. Vielleicht weißt du mehr als ich.«
Eloïse zuckte die Schultern und zählte alles auf, was ihr in den Sinn kam. Dass Sophia aus den deutschen Landen stammte, dass sie mit Isambour von Dänemark nach Frankreich gekommen war, dass sich schließlich ihrer beider Wege für lange Jahre getrennt hatten. Des Weiteren war bekannt, dass Sophia geheiratet, an der Seite ihres Mannes in Paris
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