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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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täglich viele Stunden im Gebet an die erhabene Gottesmutter, welcher sie ihr karges, verzichtreiches Leben geweiht. Dieses ist ihr nicht etwa vom König aufgezwungen, sondern selbst gewählt...«
    »Ich würde das kein zweites Mal schreiben«, unterbrach ihn Sophia. »Im letzten Brief haben wir den Satz im gleichen Wortlaut stehen.«
    »So? Ich kann mich nicht entsinnen. Nun gut, dann also schreibt: Auch wenn der König sich bereit findet, mit ihr Tisch und Bett zu teilen, so würde sie doch keine Ehe führen wollen, wie’s die schwachen Menschen tun. Viel lieber würde sie den König zu einer Verbindung, wie Maria und Josef sie geführt haben, anregen – was freilich bedeutete, dass sie ihm keine Kinder schenken könnte...«
    »Im Schreiben vom September standen dieselben Worte«, gab sie zu bedenken. »Habt Ihr nicht gesagt, ein jedes Mal solle ein neues Argument hinzukommen – auf dass ich nicht einem geschwätzigen Weibe gliche, sondern einer bedächtigen Frau?«
    Er verzog die Stirne. »Wie kommt es, dass Ihr die Briefe so gut im Gedächtnis habt?«
    Sie zuckte die Schultern und sprach das erste Mal von ihrer Gabe, ohne von Zorn oder Ungeduld dazu verleitet zu sein, lediglich von einer gewissen Behaglichkeit, nachdem er von der eigenen Vergangenheit erzählt hatte.
    »Es ist ganz einfach so«, erklärte sie, »dass ich jedes Wort, das ich einmal geschrieben oder gelesen habe, auf ewig memorieren kann. Es lässt sich hernach nicht wieder aus dem Gedächtnis wischen. Und wenn es sich darin auch oft hartnäckig versteckt – ich finde es doch, wenn ich nur eifrig danach suche. Dies ist, warum ich Kenntnis in allen Wissenschaften besitze, die niemand mir nehmen kann, ganz gleich, wie sehr man mir die Gelehrsamkeit auch stets aufs Neue zu verbieten sucht.«
    Beinahe herausfordernd hob sie den Kopf und lächelte das spöttische und schmerzliche Lächeln, das eben noch in seinem Gesicht gestanden hatte. »Seid Ihr nun entsetzt, Frère Guérin? Ihr solltet wissen – alle anderen, die davon erfuhren, sprachen von diesem Talent als Teufelsgabe!«
    Merkwürdig glücklich deuchte sie ihr Leben. Gemindert war ihre Zufriedenheit einzig vom Umstand, dass jene sie verwirrte. Nie hatte sie danach gesucht – und am allerwenigsten in einer Welt, die zerrissen war zwischen einem störrischen König und einem machthungrigen Papst. Doch der drohende Kirchenfluch, der als Albdruck auf ganz Paris lastete, wähnte sie nicht schwerer als die Bürde des nahenden Winters, da das raue Leben – an Wärme und an Licht viel ärmer als in anderen Jahreszeiten – gemeinhin viele Opfer forderte.
    Eine dünne Eisschicht überzog seit Anfang Dezember nicht nur die Seine, wo sie nur an wenigen Stellen brach und braunes Wasser spuckte, sondern auch die schmutzigen Straßen und die spitzen Türme der Kirchen. Sophias Gemüt aber blieb davon frei.
    Gerne besuchte sie Frère Guérin in dessen schlichtem Zimmer – an ihn, sein undurchdringliches Beobachten und sein wertfreies Sprechen ob der gemeinsam verfassten Briefe gewöhnt, vor allem aber von ihm eingenommen, weil er ihre Gabe nicht geißelte.
    Es war ihm selbstverständlich, aus allen Menschen, die ihm nahe kamen, Nutzen zu ziehen für sein Amt. Was gut und böse, richtig und falsch war, bestimmte er im Hinblick darauf, ob es Frankreich, dem König und folglich ihm selbst diente. Inmitten dieser nüchternen Berechnung war ihre Gabe etwas, das keineswegs störte, vielleicht sogar einen Vorteil darstellte.
    »Ihr seid der erste Mensch, der keine Furcht zeigt... vor mir«, murmelte sie in sich hinein, nachdem er mit Interesse, nicht aber mit Verachtung oder Bangen ihre Worte überprüft hatte.
    Er lachte freudlos auf. »Schaut Euch doch um! Die Welt ist aus den Fugen – und an allen Ecken wuchert etwas, das bange stimmen könnte. Wie soll mir ein ruhiger Atemzug noch gegönnt sein, hielte ich mich mit all dem auf? Nein, ich kenne keine Furcht.«
    Dass er so leichtfertig und offen sprach, stimmte sie mutwillig. Überraschend trat ihr eine Frage über die Lippen, die sie bei längerer Überlegung niemals gestellt hätte. »Bereitet es Euch nicht die größte Furcht«, setzte sie an, »dass Ihr dem König vollends unterworfen seid? Man sagt Euch nach, Ihr wärt der wichtigste Mann – nach ihm. Euer Wort gilt – nach seinem. Was ist, wenn er Euch eines Tages alles zunichte macht, was Ihr mit Frankreich plant? Und was ist, wenn das Gegenteil geschieht: er Dank Eures geheimen Wirkens alle seine

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