Die Chronistin
Ziele erreicht, aber Ihr – selbst in der Stunde des größten Triumphes – im Schatten zu verbleiben habt?«
Kurz wähnte sie sich zu weit gegangen. Sein Gesicht verschloss sich zur undurchdringlichen Maske, die er gemeinhin für Menschen übrig hatte. Sein rechter Fuß zuckte unruhig.
»Mir scheint, wir beide stehen uns im Wesen nahe«, erklärte er dann jedoch freimütig. »Wir wissen beide um das eigene Können und müssen’s doch verbergen – uns anderen fügend, auf dass uns das Leben gelänge.«
Mehr Worte machte er nicht. Jene genügten ihr, dass ihr alles leichter zur Hand ging. Selbst das Leben in Bertrands Haus war nicht unerträglich wie in den Tagen nach seinem bösen Verbot.
Gewiss, die Bibliothek war ihr verschlossen wie all die übrigen geheimen Kammern im ersten Stock – und doch hatte sie einen Verbündeten, der sie für diesen Mangel entschädigte.
Bald schon, nachdem sie Magister Jean-Albert geheilt hatte und sie dafür bestraft, anstatt belohnt worden war, kam Théodore in ihr Zimmer geschlichen und bot an, künftig alles zu berichten, was sich in seinen Schulstunden zutrug und was er selbst zu lesen aufbekommen hatte.
Zuerst scheute sie die Hilfe eines Kindes, das kaum fähig war, Latein zu sprechen. Später stimmte sie dem Vorschlag zu, berechnend, dass es noch schlimmer wäre, allein in ihrem Gemach zu hocken, als einem Knaben zuzuhören. Zudem fand sie Gefallen daran, in Théodores Beisein über Magister Jean-Albert zu spotten, dem sie nie recht verzeihen konnte, dass er kleinlich und engstirnig noch vom Krankenbett aus ihre Unbill vergrößert hatte.
»Wir lasen heute Petrus Lombardus, und was er über die Liebe des Menschen zu Gott sagt«, berichtete Théodore, »und dieses wäre, dass die Liebe zu Gott nicht vom Menschen selbst stammt, sondern gleichzusetzen ist mit dem Heiligen Geist. Ergo ist es Gott, der im Menschen wirkt.«
»Und das war alles, was Magister Jean-Albert dazu zu sagen hatte?«
»Gewiss, er drängte mich allein dazu, diese Sentenzio des Lombardus auswendig zu lernen.«
»Man möge vermeinen, sein Kopf hätte mehr davongetragen als nur einen Riss. Oh, hätte ich ihm ein wenig mehr Geisteskraft eingenäht, als ich die Hautfetzen aneinander fügte! Sollt er dich nicht auch lehren, zu hinterfragen und zu kommentieren, was du liest?«
Ihre Stimme klang ungeduldig und gereizt, wie immer, wenn sie mit Théodore zu tun hatte – als wolle sie mit jeder Geste bezeugen, dass sie das Kind in Wahrheit nicht vonnöten hatte. Wie früher duckte er sich vor der strengen Stimme und war verängstigt wie vor keinem anderen Menschen. Doch inzwischen vermochte er ihrem Blicke länger standzuhalten – gestärkt vom Wissen, dass er ihr einen Gefallen tat und nicht umgekehrt.
»An diesem Satze ist einzuwenden«, erklärte Sophia stolz an seiner statt, »dass dem Menschen die eigene Willensfreiheit abgesprochen, ja, der Glaube an Gott zum Werk des Allmächtigen gemacht wird, was hieße, dass jener die Willkür besäße, ihn manchen Menschen zu geben und anderen eben nicht. Und das wiederum hieße, dass nicht der Mensch sich für ein gottgefälliges Leben entschiede oder eben dagegen, sondern der Allmächtige ihn entweder der Verdammnis preisgibt oder der Ewigen Seligkeit... Freilich: In einem Brief des Apostels Paulus lesen wir Ähnliches – in welchem?«
Sie fragte bohrend. Théodore schwieg verstockt.
»Lieber Himmel!«, stöhnte Sophia ungeduldig. »Willst du ein großer Gelehrter werden – der größte dieser Tage –, musst du die Bibel auswendig und im Herzen kennen. Es ist der Römerbrief Kapitel fünf, fünfter Vers. Und auch die Sentenzen von Lombardus musst du im Schlaf beherrschen. Wo genau steht jener Satz über die Gottesliebe geschrieben, der dir zu lernen aufgetragen wurde?«
Théodore wand sich vor Scham.
»Unnützer Junge!«, zischte Sophia. »Magister Jean-Albert sollte es dir einprügeln! Also: Jener Satz steht in der 17. Distinctio des I. Sentenzenbuchs geschrieben.«
»Wie kommt es, dass Ihr die besondere Gabe habt, Euch alles zu merken?«, fragte Théodore nach einer Weile. »Magister Jean-Albert meinte, er habe so etwas noch nie an einem anderen Menschen gesehen, und es sei deswegen nicht auszumachen, ob nicht...«
Sophia reckte den Hals. »Wag’s nicht, lästerliche Worte über meine Gabe zu wiederholen! Der engste Vertraute des Königs, Frère Guérin, hält sie für ein großes Talent – besser, du folgst seiner Ansicht als der deines dummen
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