Die Chronistin
Was nützt es auch, wenn jene vom Himmel aus mich begaffen und mich rühmen? Ich habe drei Männer verloren und sechs Kinder...«
»Und weißt du, was mich an dir am meisten entsetzt«, fiel die Schwester ihr ins Wort, »dass du dieses unerbittliche Schicksal zwar benennst, aber nicht bedauerst. Es scheint dir eben recht zu kommen, auf dass du dich bestätigt siehst, wie scheußlich es auf Erden ist.«
»O nein, du irrst. Mag sein, dass ich mich der Trauer nie ergeben habe – doch das geschah, weil ich nicht dulden will, dass alles Leben nur schwer sein soll und uns stets zum Scheitern bringt. Ich will glücklich sein, meine Schwester, und eben darum suche ich einen Ort, wo ich denn Ruhe finde.«
»Es sollt mich wundern, fändest du ein Glück – wo niemals ein Leid dein Herz erhaschen darf.«
Einem Echo gleich blieb der letzte Satz in der Erinnerung haften. Von allen Seiten wurde er ihr entgegengerufen, und dem Stimmengewirr ausgeliefert, wurden in ihrem wirren Geiste noch andere laut.
Sophia schien plötzlich vor ihr zu stehen und sprach von ihrer Chronik. Cathérine, die den Hass auf die Mutter bekundete und zugleich die späte Versöhnung. Und Gret. Immer wieder Gret.
Sophia war ganz anders, als du dachtest. Sophia hat mich ihre Chronik lesen lassen.
Roesia fuhr auf – und jetzt erst war es still.
Sie gewahrte, dass sie vom Halbschlaf ins Reich der Träume geglitten war, nun aber, da sie die Augen aufschlug, sich aus jenem befreit hatte. Ein Schmerz zog die Schläfen entlang, aber war leichter zu ertragen als die Unordnung an Menschen und Sätzen, die auf sie eingeprasselt waren.
Benommen kleidete sie sich an, tauchte das Gesicht in kaltes Wasser und schritt hinab zum Morgengebet. Wiewohl von dem Gemurmel ansonsten ruhig gestellt, suchte sie es heute von sich fernzuhalten und sich einzig an der wiedergewonnenen Stille im Kopf zu erfreuen. Jene war der Geräusche nicht gänzlich bar – es klang, als würde sie den Wellen lauschen, deren Klang die Jugend stets begleitet hatte. Aber die Menschen fehlten darin, und kurz wünschte sie, es gäbe solche in ihrem Leben nicht, und sie befände sich nicht nur in einem Damenstift, sondern in einer Einsiedelei.
Das Gebet endete. Roesia erhob sich mechanisch. Immer noch wollte sie vor jeglichem menschlichen Laut fliehen, da durchriss von weither eine Stimme das Meeresgeplätscher.
Oh, wenn sie schwiege!
»Mutter Äbtissin«, drang es in ihr Ohr. »Mutter Äbtissin!«
Unwirsch drehte sie sich um.
»Habt Ihr denn nicht gesehen... habt Ihr denn nicht gesehen...«
Der Schmerz der Schläfen schien in die Mitte des Kopfes zu wandern und sich dort festzubeißen.
»Was denn?«, fragte sie ungeduldig.
»Euch muss doch eben beim Gebet das gleiche Sonderbare aufgefallen sein wie uns! Ein Platz war frei. Gret... Gret ist verschwunden.«
Kapitel X.
Anno Domini 1200
Aus der Chronik
In Soissons stellte sich Philippe, König von Frankreich, dem Legaten Petrus von Capua, desgleichen den Kardinälen Oktavian von Ostia und Johannes von Colonna, die der Papst aus Rom geschickt hatte. In ihrem Beisein – und gleichsam beobachtet von Isambours langjährigen Fürsprechern Etienne von Noyon und Daniel de Saint-Quentin – traf er die verstoßene Gattin wieder.
Über Jahre hatte sie im Kloster von Cysoing ausgeharrt. Nun nahm sie auf dem Stuhl neben dem König Platz. Er reichte ihr die Hand, und Petrus von Capua erklärte, dass die Ehe rechtmäßig sei.
Ob der König zu jener Stunde an Agnèse dachte?
Sie musste von ihren beiden Kindern Abschied nehmen, die in Paris blieben, wurde in eine graue Burg nach Poissy verbannt und starb dort einige Monate später an der Geburt eines Kindes, das niemals gezeugt hätte werden dürfen und nicht älter als zwei Tage wurde.
Sophia wartete auf Isambour.
Kahl war der Raum in der Burg zu Soissons, in dem sie auf und ab ging – von den rauen, gewölbten Wänden schienen nicht nur die eigenen Schritte zu hallen, sondern auch der Atem, den sie ausstieß. Was hinter den Toren vorgehen mochte und wie es dem König erging, musste er dem verhassten Weib die Hand reichen, war ihr gleich. Sie fragte sich allein, ob Isambours Anblick sie zum Schaudern bringen oder ihr Gemüt erkalten lassen würde.
Gerne hätte sie Frère Guérins Bitte ausgeschlagen. Die Vertraulichkeit jedoch, die die sonderlichen Umstände zwischen ihnen zeugte, hatte sie genötigt, nach Soissons mitzukommen, um nach der peinvollen Zeremonie Isambour in Empfang zu
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