Die Clans von Stratos
daß der Turm über zweihundert Meter hoch und etwa ein Drittel so breit war.
An einigen Stellen war er beschädigt. Ein Gerüst deutete darauf hin, daß vor nicht allzu langer Zeit an dem natürlichen Obelisken gearbeitet worden war; an seinem Fuß lag ein großer Trümmerhaufen. Eine Reihe gewölbter Fenster folgte dem Verlauf eines hellen Steinbands, das sich bis zur halben Höhe emporschlängelte. Eine zweite Reihe kleinerer Öffnungen verlief ein paar Meter weiter unten parallel zur ersten.
Nahe am Fuß des bearbeiteten Felsen kam jetzt eine breite, steile Rampe in Sicht, die zu einem riesigen Portal hinaufführte.
Direkt dorthin wurde Maia gebracht.
Wir hatten Glück, in einem so seltsamen Binärsternsystem, einer Art, wie sie höchst selten besucht wird, eine bewohnbare Welt zu finden. Seine orbitalen Besonderheiten sowie seine Größe und die dichte Atmosphäre müßten unsere Kolonie eigentlich für lange Zeit vor unerwünschten Blicken verborgen halten.
Diese Eigenschaften bedeuten auch, daß genetische Manipulationen vonnöten sind, ehe unsere ersten Siedler die Kuppeln verlassen können. Während wir in so fundamentalen Bereichen wie der Sexualität ehrgeizige Veränderungen vornehmen, werden wir auch die Menschen entsprechend umformen müssen, damit sie in der Luft von Stratos leben und atmen können. Wie auf anderen Kolonialwelten muß die Toleranz für Kohlendioxid und die Gesichtsfeldempfindlichkeit angepaßt werden. Außerdem haben wir, kurz bevor wir das Phylum verlassen haben, neue Entwürfe für verbesserte Nieren, Lebern und Sinnesorgane erarbeitet und werden diese gewiß verwerten.
Die langsame, komplizierte Umlaufbahn des Planeten stellt eine besondere Herausforderung dar, wie beispielsweise eine exzessive Ultraviolettstrahlung, wenn sein kleiner Begleiter, der Waenglers Stern, seinen nächsten Punkt erreicht. Möglicherweise wäre eine jahreszeitliche Variation sinnvoll, denn so wären die Umgebungshinweise für den von uns geplanten zweiphasigen Reproduktionszyklus vorhanden. Doch zuerst einmal müssen wir uns vergewissern, daß die Menschen und Tiere, die wir dort hinbringen, auch robust genug sind, um zu gedeihen.
- Auszug aus der Ansprache zum Landungstag, von Lysos
Kapitel 9
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In dem ausgehöhlten Berg war ein weitläufiges Netzwerk von Zimmern und Korridoren angelegt worden. Vielleicht hatten die Bauarbeiterinnen teilweise auch natürliche Höhlen oder Spalten genutzt, aber als sie mit ihren Maschinen und ihrem Sprengstoff wieder abzogen, hatte das endlose Tunnelsystem kaum mehr etwas mit der Natur zu tun. Das Männerreservat war beinahe vollendet gewesen, als die Arbeit abrupt abgebrochen wurde, so daß eine leere, echoerfüllte Hülle zurückblieb.
Maia konnte nur einen kurzen Blick auf das Äußere werfen, als der Wagen eine lange Erdrampe zu einem massiven Holzportal hinaufholperte. Eine der Frauen sprang herunter, um zu klopfen. Tief und dröhnend hallte es von innen wider. Die andere Frau kletterte zu Maia, um ihre Knöchel loszubinden. Durch den Drogennebel sah Maia, daß auch überall neben der Rampe staubige Felstrümmer herumlagen, die offenbar aus den Öffnungen auf halber Höhe des Turms herabgeworfen worden waren. Die obere Fensterreihe bestand aus luftigen Galerien, breit genug, um die Sommerbrise hereinzulassen, wenn das Reservat am dichtesten bevölkert war. Im Vergleich zu ihnen waren die Fenster weiter unten bloße Luken.
In diesem Bauwerk steckte eine Menge Zeit und Geld. Eine Investition, die eigentlich zu groß war, um sie einfach abzuschreiben.
Das war einer der wenigen klaren Gedanken, die Maia durch den Kopf gingen, während sie vom Wagen gezerrt und in einem Tempo, bei dem ihre wackeligen Beine kaum mithalten konnten, durchs Tor gescheucht wurde. So stolperte Maia hinter den beiden stämmigen hartgesichtigen Frauen her. Ihre Arme waren nach vorn gefesselt, so daß die Frauen sie an einer Leine führen konnten. Die beiden sprachen nicht, sondern nickten nur einer dritten Klonfrau ihrer Art zu, die das äußere Tor verschloß und mit ihnen hineinging. Maia kannte den Namen ihres Clans nicht.
Es war schwer, mehr als einen oberflächlichen Blick auf die Umgebung zu werfen, denn die Frauen zerrten Maia endlose Treppen hinauf, verlassene, leere Korridore entlang, dann durch eine große Halle mit Tischen und Stühlen und einem großen Kamin. Ein Stück weiter im Haupttunnel – der von schwachen Glühbirnen trübe erhellt wurde – kamen sie
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