Die Company
Zugluft hochgestellt, einen Schal um den Hals geschlungen, ließ den Blick über die Szenerie wandern. Kopfschüttelnd murmelte er Déjà vu vor sich hin – er hatte das alles schon einmal gesehen, sagte er. Das war gegen Ende des Krieges gewesen. Er war der OSS-Chef in Bukarest, als die Rote Armee anfing, Rumänen zusammenzutreiben, die gegen sie gekämpft hatten, und sie in Viehwaggons in sibirische Arbeitslager zu transportieren.
Ob einer der Anwesenden Harvey Torriti kenne, erkundigte er sich. Als Jack sagte, dass er für den Zauberer arbeite, merkte Wisner auf. Guter Mann, dieser Torriti. Dickes Fell. Man brauchte ein dickes Fell, um in dieser Branche zu überleben, obwohl es Zeiten gab, in denen einem auch ein dickes Fell nicht weiterhalf. Harvey und er hatten sich innerlich gekrümmt, als sie die Schreie der Rumänen hörten. Mit eigenen Händen hatten Harvey und er Gefangene begraben, die sich lieber umgebracht hatten, als in die Waggons zu steigen. »Déjà vu«, sagte Wisner leise. Die Geschichte wiederholte sich. Amerika überließ unschuldige Menschen einem Schicksal, das schlimmer war als der Tod. Rumänen. Polen. Ostdeutsche. Jetzt die Ungarn. Die Liste war unerträglich lang.
Ein kleiner Junge in einem viel zu großen zerrissenen Mantel kam auf Wisner zu und streckte ihm die Hand entgegen. » A nevem Lórinc«, sagte er.
Einer von Jacks Helfern, der Ungarisch verstand, übersetzte: »Er sagt, er heißt Lórinc.«
Wisner ging in die Hocke und gab dem Jungen die Hand. »Ich heiße Frank.«
Dann kramte er in seinen Taschen nach etwas, das er dem Jungen schenken könnte. Das Einzige, was er zutage förderte, war eine Packung Hustenbonbons. Er zwang seine starren Lippen zu einem Lächeln und hielt dem Jungen die Packung hin. Der Junge nahm sie mit großen, ernsten Augen.
»Er meint bestimmt, es wäre was Süßes«, sagte Wisner. »Na ja, er wird es verschmerzen. Schließlich hat er mit uns eine viel schlimmere Enttäuschung erlebt.«
Das Lächeln erstarb, Wisner richtete sich auf und ließ den Kopf von einer Seite zur anderen rollen, als könnte er den Kummer nicht mehr ertragen. Jack und Millie Owen-Brack sahen einander verunsichert an. Wisner blickte sich fast panisch um. »Ich krieg keine Luft hier drin«, erklärte er. »Könnte mir wohl jemand freundlicherweise den Weg nach draußen zeigen?«
Das ungarische Restaurant in einem mit einer Glaskuppel überspannten Garten abseits der Prinz-Eugen-Straße, einer von Wiens beliebten Flaniermeilen, war zum Bersten voll mit den üblichen Gästen nach einem Theater- oder Opernbesuch, als Wisner und seine Begleiter von der Fahrt zur Grenze zurückkamen. Korken knallten, Champagner floss, die Kasse neben der Garderobe klingelte. Damen in schicken, tief ausgeschnittenen Kleidern lachten perlend über den Gesprächslärm hinweg oder beugten sich über Kerzenflammen, um sich Zigarillos anzuzünden, während die Männer geflissentlich vermieden, ihnen in den Ausschnitt zu schielen. Wisner, der über einen L-förmigen Tisch in der Ecke präsidierte, kannte Wien gut genug, um seine Gäste – als da waren Botschafter Thompson, Millie Owen-Brack, Jack McAuliffe, ein Korrespondent der Zeitungsgruppe Knight-Ridder mit einem Namen, den sich niemand merken konnte, und mehrere untergeordnete Mitarbeiter der CIA-Basis – daran zu erinnern, wo sie waren: Sie waren nämlich, so verkündete Wisner, mit dem Handrücken einen Rülpser unterdrückend, nur einen Steinwurf entfernt von der berüchtigten Kammer für Arbeiter und Angestellte, wo Adolf Eichmann die, wie die Nazis sie zynisch nannten, »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« geleitet hatte. Schwankend erhob Wisner sich und klopfte mit einem Messer gegen eine Flasche Wein, um einen Toast auszusprechen.
»Ich weiß nicht, ob ich zu tief ins Glas geschaut habe oder noch nicht tief genug«, begann er und erntete nervöses Lachen. »Trinken wir auf Eisenhowers Sieg über Stevenson – möge er in seiner zweiten Amtsperiode mehr Schneid an den Tag legen als in der ersten.« Botschafter Thompson stand e benfalls auf, um seinerseits einen Toast auszubringen, doch Wisner sagte: »Ich bin noch nicht fertig.« Er sammelte seine Gedanken. »Mag sein, dass es gegen die Statuten des Außenministeriums verstößt, aber was soll’s – trinken wir auf das Wohl der verrückten Magyáren«, rief er und hob sowohl sein Glas als auch die Stimme. »Es würde an ein Wunder grenzen, wenn von ihnen noch welche am Leben
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