Die Corleones
Clemenza.
Vito hob die Hand und bedeutete ihm zu schweigen. Zu Sonny sagte er: »Wir kümmern uns um ihn. Ist das ein Freund von dir?«
Sonny dachte ganz kurz nach und erwiderte: »Ja, Pa. Er ist wie ein Bruder für mich.«
Damals wie heute wusste er nicht, warum er das gesagt hatte.
Vitos Blick ruhte eine halbe Ewigkeit auf Sonny, als versuchte er, in das Herz seines Sohnes zu blicken. Dann legte er Tom einen Arm um die Schulter und führte ihn in die Küche. In jener Nacht und während der nächsten fünf Jahre, bis er aufs College ging, teilte sich Tom ein Zimmer mit Sonny. Sein Auge heilte. Er nahm zu. Während der ganzen Schulzeit gab er Sonny Nachhilfe, versuchte ihm möglichst viel beizubringen, und wenn das nichts half, ließ er ihn eben abschreiben.
Tom tat sein Bestes, um Vito zufriedenzustellen – aber nichts, was er tat, würde ihn jemals zu Vitos Sohn machen. Und nichts, was er tat, würde jemals seinen richtigen Vater zurückbringen. Deshalb konnte Sonny auch nicht allzu wütend auf ihn werden. Er würde nie vergessen, wie er da mit dem Sack über dem Kopf auf dem dreibeinigen Stuhl gesessen hatte und
Ich werde blind, Sonny!
gesagt hatte.
Aus der Küche drang Carmellas Stimme zu ihm herauf. »Santino! Das Essen ist fast fertig! Wie kommt es, dass ich noch kein Badewasser einlaufen höre?«
»Ich bin in zehn Minuten unten, Ma!«, rief Sonny zurück. Er sprang vom Bett und öffnete die Knöpfe seines Hemdes. Dann holte er einen Bademantel aus dem Schrank und schlüpfte hinein. Er musste sich recken, um an eines der oberen Fächer zu gelangen, wo er eine Hutschachtel versteckt hatte. Er öffnete sie, nahm den neuen, weichen, blauen Fedora heraus und setzte ihn auf. Vor der Kommode kippte er den Spiegel leicht nach hinten und musterte sich eingehend. Nachdem er sich die Krempe in die Stirn gezogen und ihn etwas nach rechts gerückt hatte, lächelte er breit. Schließlich warf er den Hut in die Schachtel zurück und verstaute sie wieder im Schrank.
»Santino!«, rief Carmella erneut.
»Schon unterwegs, Ma!«, erwiderte Sonny und eilte zur Tür hinaus.
Kurz nach Mitternacht war das Juke’s randvoll mit gelackten Typen in Smoking und Zylinder, mit schicken Frauen in Seide und Pelzen. Auf der Bühne hatte der Posaunist sein Instrument deckenwärts gerichtet, während er mit einer Hand den Zug und mit der anderen den Dämpfer tanzen ließ. Zusammen mit dem Rest der Band gab er eine jazzige Version von »She Done Him Wrong« zum Besten. Der Schlagzeuger hatte sich auf seinem Thron so weit vorgebeugt, dass es aussah, als berührte sein Gesicht die Snare; er ließ die Stöcke wirbeln und war völlig in seiner Klangwelt versunken. Auf der Tanzfläche drängten sichdie Paare aneinander, lachten und schwitzten, und hier und dort blitzte ein Flachmann auf. Kellner mit vollen Tabletts eilten durch den weitläufigen Raum und brachten Essen und Getränke zu den zahlreichen Tischen und den elegant gekleideten, gutbetuchten Gästen.
Sonny und Cork tranken schon seit Stunden, und Vinnie, Angelo und Nico standen ihnen in nichts nach. Stevie war nicht aufgetaucht, obwohl sie sich im Juke’s verabredet hatten, um zu feiern. Vinnie und Angelo trugen beide einen Smoking. Anfangs hatte Angelo die Haare noch ordentlich nach hinten gekämmt, aber je länger die Nacht andauerte und je mehr sie tranken, umso mehr Strähnen fielen ihm in die Stirn. Nico und Sonny trugen zweireihige Anzüge mit breiten Revers und Satinkrawatten – Nicos Krawatte war hellgrün und Sonnys blau, passend zu seinem neuen Fedora. Die meisten Frauen im Juke’s waren Mitte zwanzig oder älter, aber das hinderte die Jungs nicht daran, mit ihnen zu tanzen, und inzwischen waren sie alle verschwitzt und nicht wenig angetrunken. Sie hatten die Kragen geöffnet und die Krawatten gelockert, und sie lachten laut über die Witze, die sie einander erzählten. Cork, der in seinem Tweedanzug mit einer Weste und einer Fliege am unauffälligsten angezogen war, hatte dafür am meisten getrunken. »Himmel«, sagte er, als würden das nicht alle bemerken, »ich hab einen im Tee, Gentlemen!« Er legte den Kopf auf den Tisch.
»
Einen im Tee
«, wiederholte Sonny, dem das gefiel. »Vielleicht täte dir eine Tasse Kaffee gut!«
Cork setzte sich ruckartig auf. »Kaffee?« Er zog einen Flachmann aus der Tasche. »Wo ich noch erstklassigen kanadischen Malt-Whisky hab?«
»Hey, du irischer Tagedieb«, sagte Nico. »Wie viele Flaschen hast du für dich
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