Die Corleones
kleines Mädchen. »Schau dich doch an, Kelly!« Tränen traten ihm in die Augen.
»Wann wirst du endlich erwachsen, Sean?« Kelly stieß ihn von sich weg und legte sich wieder ins Bett. Sie zog sich eine rote Decke bis über die Taille und schob sich ein Kissen unter den Kopf. »Jetzt bist du also hier …« Sie beugte sich vor, als wollte sie ihn fragen, was er wollte.
Sean räumte den Sessel frei und schob ihn neben das Bett. »Kelly«, sagte er und ließ sich auf den Sessel sinken, als wäre er völlig erschöpft. »Schwesterchen, so kannst du doch nicht leben.«
»Nicht? Soll ich zu euch zurück und wieder für euch kochen und putzen? Wie ein Dienstmädchen nach eurer Pfeife tanzen? Nein danke, Sean. Bist du deshalb hergekommen? Um mich nach Hause zurückzuholen?«
»Nein, deshalb bin ich nicht hier. Ich mach mir Sorgen um dich. Schau dich doch an!« Er lehnte sich zurück, wie um sie besser betrachten zu können. »Du siehst aus, als gehörst du ins Krankenhaus, und stattdessen liegst du rum und besäufst dich.«
»Ich bin nicht betrunken«, erwiderte sie. Auf dem Nachttisch neben ihr stand eine fast volle Flasche Roggenwhisky und ein leeres Glas. Sie schenkte sich ein, und Sean riss ihr das Glas aus der Hand, bevor sie es an die Lippen führen konnte.
»Was willst du, Sean? Sag mir, was du willst, und dann lass mich in Ruhe.«
»Warum bleibst du bei jemand, der dich prügelt wie einen Hund?« Sean stellte das Glas auf den Nachttisch. Da bemerkte er das kleine Fläschchen mit den schwarzen Pillen und nahm es in die Hand. »Und was ist damit?«
»Ich hab’s verdient«, sagte Kelly. »Du weißt doch gar nicht, was passiert ist.«
»Du klingst wie Mom, wenn Dad sie mal wieder verdroschen hat.« Er schüttelte die Pillen und sah sie fragend an.
»Die hat Luca mir besorgt«, sagte sie und nahm ihm dasFläschchen aus der Hand. »Wegen der Schmerzen.« Sie ließ zwei schwarze Pillen in ihre Hand rollen, steckte sie sich in den Mund und spülte sie mit Whisky hinunter.
»Kelly, ich bin nicht hier, um dich nach Hause zu holen. Donnie würde das sowieso nicht zulassen.«
Kelly ließ sich auf das Bett zurücksinken und schloss die Augen. »Warum dann?«
»Schau mich an«, sagte Sean. »Ich bin hier, weil ich dir sagen wollte, dass ich immer für dich da bin, wenn du mich brauchst.«
Kelly lachte und drehte sich auf die Seite. »Du bist ein großes Kind, Sean O’Rourke. Schon immer gewesen.« Sie strich ihm über die Hand und schloss wieder die Augen. »Geh jetzt und lass mich schlafen. Ich bin müde. Ich brauch meinen Schönheitsschlaf.« Kurz darauf wich die Anspannung aus ihrem Körper und sie war eingenickt.
»Kelly«, sagte Sean. Als sie nicht antwortete, legte er ihr die Finger auf den Hals. Ihr Pulsschlag war kräftig und regelmäßig. »Kelly«, sagte er noch einmal. Er nahm eine der Pillen aus der Plastikflasche, betrachtete sie eingehend und tat sie dann wieder zurück. Auf der Flasche war kein Etikett. Er strich Kelly die Haare aus der Stirn – die Schnittwunde war lang und verlief fast bis zum Scheitel. Obwohl sie mit Schorf überzogen war und hässlich aussah, war sie offenbar nicht tief. Er deckte Kelly zu, zog ihr die Schuhe aus und stellte sie ordentlich neben das Bett. Als er die Wohnung verließ, vergewisserte er sich, dass er die Tür ins Schloss gezogen hatte.
Auf der Straße blies vom Hudson ein rauher Wind herüber. Sean schlug den Kragen seiner Jacke hoch und eilte nach Hause, stieß die Tür mit dem Ellenbogen auf und marschierte die Treppe hinauf. In der Küche saß seine Mutter am Tisch, die Comicseite des
New York American
vor sich ausgebreitet. Sie war schon immer eine zerbrechliche Frau gewesen, aber mit den Jahren war sie hager geworden, und vor allem der Anblick ihres Halses war nur schwer zu ertragen – die Sehnen und Hautlappen sahen aus wie der Hals eines Huhns. Wenn sie über einen Comic lächeln musste,leuchteten ihre Augen jedoch immer noch wie früher. Seans Vater war nirgendwo zu sehen; wahrscheinlich lag er im Bett, eine Flasche Whisky auf dem Nachttisch und ein Glas in der Hand. »Mom«, sagte Sean, »wo sind Willie und Donnie?«
Seine Mutter blickte von der Zeitung auf. »Krazy Kat«, sagte sie, wie um ihr Grinsen zu erklären. »Die Jungs sind oben auf dem Dach. Treiben irgendwelchen Schabernack mit den dummen Vögeln. Bei dir alles in Ordnung, Sean? Du siehst aus, als würdest du dir Sorgen machen.«
»Nee, alles in Ordnung, Mom.« Sean legte ihr die Hände
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