Die Cromwell Chroniken - Schicksals Pfade (German Edition)
Hals.
Auf der anderen Seite des Wagens erkannte sie die Farben Rosinas.
Als ihr Bruder sie wieder auf dem Boden abgestellt hatte, war Linda ein wenig schwindelig und sie schwankte kurz. Doch Tom kam nicht dazu, sie zu stützen, denn die junge Seherin wurde bereits in die nächste Umarmung gezogen.
„Liebes, ich bin so froh! Natürlich war diese Prüfung ein Klacks für dich! Aber nur, weil ich das wusste, heißt es ja nicht, dass du es auch merken würdest. Ich bin so erleichtert!“, erklang die gerührte Stimme des Ordensoberhauptes.
„Ja, ich bin auch erleichtert“, erwiderte Linda lächelnd und drückte die ältere Dame zärtlich.
„Das muss gefeiert werden! Gibt es etwas, was ich für dich tun kann? Wünschst du dir etwas, Liebes?“, erkundigte sich Rosina Kempten.
Linda schüttelte den Kopf.
„Nein, gar nicht. Ich bin wunschlos glücklich“, antwortete sie.
Ihr laut knurrender Magen strafte ihre Worte jedoch Lügen.
„Na ja, vielleicht hätte ich doch einen kleinen Wunsch …“, gab sie schließlich zu und ihre Wangen färbten sich rot.
Cendrick verließ Dormesis Büro mit einem merkwürdigen Gefühl. Er konnte es nicht näher benennen. Irgendetwas war merkwürdig, aber er wusste nicht, was.
Kein Triumph. Kein Hochgefühl. Nichts.
Er hatte zwar Antworten erhalten, doch anstatt befriedigt über die neuen Informationen zu sein, hatten sich nur noch mehr Fragen bei ihm aufgetan.
Er ließ das Gespräch mit seinem Ordensoberhaupt noch einmal Revue passieren und fragte sich, was er davon halten sollte.
„Sie sind in vielerlei Hinsicht einzigartig“, hat er gesagt. Doch ist Einzigartigkeit nicht etwas, was man Leuten bescheinigt, wenn sie sonst nichts Positives zu bieten haben? Was kann man sich auf „einzigartig“ schon einbilden? Und dann erst der Auftrag, den er mir erteilt hat … Was soll man davon halten?
Über dies und andere Dinge grübelte er, als er sich auf den Weg zurück zu seinem Hotel machte. Dormesi hatte ihn in das Prozedere des Ordensrituals eingeweiht. Es war der letzte Schritt, den er zur Aufnahme im Hetaeria Magi gehen musste.
Aber erst morgen. Heute Nacht muss ich mich unbedingt entspan nen.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er hatte ganz genaue Vorstellungen davon, wie diese „Erholung“ auszusehen hatte.
Eine schöne Frau ...
Kapitel 58
Graciano hatte es plötzlich eilig, sich zurückzuziehen. Nachdem er die Patientin auf die Station gebracht und sie ihm versichert hatte, ihr Zimmer alleine zu finden, hatte er kehrt gemacht und war auf sein eigenes Zimmer geeilt. Er hatte in den letzten Tagen so viele Überstunden gemacht und war mit seinen Aufgaben bereits fertig, sodass er kein schlechtes Gewissen haben musste, heute früh in den Feierabend zu gehen.
Jetzt habe ich etwas Wichtigeres zu tun.
Gott hatte ihm die Tür zu seinem Herzen wieder geöffnet und er wollte sich dafür bedanken, wollte wieder den engen Kontakt zu seinem Heiligen Vater aufnehmen. Der junge Wächter hatte noch nie zuvor jemanden so vermisst wie in diesem Moment. Natürlich wusste er, dass er Gott überall nahe sein konnte, doch er wollte einen feierlichen Rahmen, wollte sich extra Zeit nehmen für seinen Herrn.
Er betrat den kleinen Raum und schlug die Bibel auf. Das Lesezeichen fiel ihm entgegen und seine Augen glitten über das Gebet, das darauf geschrieben stand: „Die sich auf Gott verlassen, die können wieder neu beginnen. Gott legt uns nicht auf unser Gestern fest, sondern schenkt uns neues Leben.“
Gracianos Augen wurden feucht. Er las diese Zeilen wieder und wieder und sie füllten sein Herz mit Dankbarkeit. Der Student erinnerte sich noch genau an den Moment, als er das Lesezeichen erhalten hatte. Das war nach seinem ersten Seelsorgegespräch bei Pater Ignatius gewesen.
Der Wächterorden war weder katholisch noch evangelisch geprägt, daher gab es dort keine Beichte. Die geistige Führung wusste jedoch nur zu gut, dass der Mensch ein Gefäß benötigte, dem er sich mit all seinen Fehlern, Sorgen und Ängsten mitteilen konnte. Solche Gespräche gaben den Studenten die Möglichkeit, von ihren ganz alltäglichen Schwierigkeiten zu berichten und sich Rat zu holen. Der Pater – als Ordensvertreter – lernte seine Schützlinge dabei ebenfalls besser kennen und konnte seelsorgerisch für sie tätig werden. Viele gingen davon aus, dass angehende Wächter es besonders leicht im Leben hatten. Schließlich gingen sie den geraden Weg – ergo lief ihr Leben in geordneten
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