Die Dämonen ruhen nicht
kein Ermittler so leichtsinnig oder selbstsüchtig ist, gegen den unverrückbar feststehenden Verhaltenskodex zu verstoßen, der keine Ausnahmen zulässt. Private Lebensentscheidungen dürfen niemals - wirklich absolut niemals - auch nur den geringsten Einfluss auf die Missionen haben, bei denen es täglich um Menschenleben geht.
»Ich habe wirklich nicht die leiseste Ahnung, was hier passiert ist und warum der Satellit die unmittelbare Umgebung dieses Gebäudes anzeigt«, erklärt Manham Lucy. »Natürlich habe ich sofort in Polunsky angerufen: Jean-Baptiste sitzt noch. Sie sagen, er ist hinter Schloss und Riegel. Also konnte er nicht hier sein. Aber das ist unmöglich, außer, der Kerl beherrscht die Levitation, verdammt.«
»Offenbar meinst du, dass er ohne den eigenen Körper auf Reisen gehen kann«, korrigiert ihn Lucy. Sie kann nicht anders, als ihn ungerecht zu behandeln und ihn abzukanzeln, hat aber dennoch ein schlechtes Gewissen deswegen. »Bei Levitation würde er nur vom Boden abheben.«
Sie fühlt sich ohnmächtig, weil ihr sonst so messerscharfer und logischer Verstand sich den Vorfall einfach nicht erklären kann. Und weil sie nicht dabei war, als es geschah.
Manham betrachtet sie zweifelnd. »Bist du sicher, dass er es ist?«
Lucy kennt Jean-Baptistes Stimme: leise, fast schmeichelnd und mit einem starken französischen Akzent. Es ist eine Stimme, die sie nie vergessen wird.
»Er ist es eindeutig«, erwidert sie. »Meinetwegen kannst du ja eine Stimmenanalyse machen, aber ich weiß schon, was dabei herauskommen wird. Ich denke, die in Polunsky werden beweisen müssen, dass das Arschloch, das bei ihnen im Todestrakt sitzt, wirklich Chandonne ist - zum Beispiel mit Hilfe einer DNS-Analyse. Vielleicht hat seine gottverdammte Familie ein paar Strippen gezogen. Wenn nötig, fahre ich selbst hin und schaue mir seine fiese Fresse an.«
Sie kommt nicht damit klar, wie sehr sie ihn hasst. Ein kompetenter Ermittler darf niemals seinen Gefühlen nachgeben, da das sein Urteilsvermögen trübt, was fatale Folgen haben kann. Aber Jean-Baptiste hat versucht, Lucys Tante umzubringen. Und deshalb verabscheut sie ihn. Dafür soll er sterben. Und zwar unter Schmerzen, wenn es nach Lucy ginge. Für seinen Vorsatz und den Mordversuch soll er die Todesangst spüren, die er anderen zugefügt hat und auch Scarpetta zufügen wollte.
»Einen neuen DNS-Test fordern? Lucy, dafür brauchen wir eine richterliche Anordnung.« Manham kennt sich mit Zuständigkeiten und gesetzlichen Beschränkungen aus, denn schließlich hat er so lange damit gelebt, dass sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen sind. Deshalb neigt er dazu, sich zumindest Sorgen zu machen, wenn Lucy etwas vorschlägt, das früher undenkbar und unmöglich gewesen wäre und unter anderem zur Unterdrückung von Beweisen und somit zur Einstellung des Gerichtsverfahrens führen würde.
»Berger kann es anordnen.« Damit meint Lucy die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin Jaime Berger. »Ruf sie an und bitte sie, so schnell wie möglich herzukommen. Am besten sofort.«
Manham kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Bestimmt hat sie gerade nichts zu tun und freut sich über die Abwechslung.«
64
Scarpetta breitet Dutzende von Farbfotos, Format vierundzwanzig mal dreißig, vor sich aus. Sie hat sie gemacht, indem sie jedes Blatt Papier aus dem Gefängnisladen von Polunsky auf einen Leuchttisch gelegt und es erst unter ultraviolettem Licht und dann noch einmal in fünfzigfacher Vergrößerung fotografiert hat.
Dann vergleicht sie die Bilder mit Fotos von Chandonnes Brief an sie. Das Papier hat keine Wasserzeichen und besteht aus dicht verfilzten Holzfasern, wie bei billiger Ware üblich, ganz im Gegensatz zu hochwertigen Produkten, die auch Lumpen enthalten.
Auf den ersten Blick hat das Papier eine glatte, schimmernde, für Schreibmaschinenpapier typische Oberfläche. Scarpetta kann keine Unregelmäßigkeiten erkennen, die darauf hinweisen, dass die Blätter aus ein und derselben Partie eines einzigen Herstellers stammen. Allerdings spielt das eigentlich auch keine Rolle. Auch wenn es Papier aus einer Lieferung wäre, wäre das als wissenschaftlicher Beweis vor Gericht nicht viel wert, denn die Verteidigung würde sofort dagegenhalten, dass aufgrund des gewaltigen Ausstoßes einer Papierfabrik billige Blätter wie diese millionenfach produziert werden.
Das achtzig Gramm pro Quadratmeter schwere A-4-Papier unterscheidet sich nicht von dem, das Scarpetta
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