Die Dame vom See - Sapkowski, A: Dame vom See
gern mit der Sektion dieses ansonsten anständigen Hexers befasst. Schon aus reiner Neugier, und eine Dissertation könnte man schreiben, wenn man ihm so ins Innere schaut … Aber es bleibt keine Zeit! Den Leichnam ’runter vom Tisch! Shani, Wasser. Marti, Desinfektion. Iola, gib … Hoppla, Mädchen, du weinst wieder? Was ist es diesmal?«
»Nichts, Herr Rusty. Nichts. Es ist schon wieder alles in Ordnung.«
»Ich fühle mich«, wiederholte Triss Merigold, »als wäre ich bestohlen worden.«
Nenneke gab lange keine Antwort, schaute von der Terrasse auf den Tempelgarten, in dem Priesterinnen und Adeptinnen geschäftig bei der Frühlingsarbeit waren.
»Du hast eine Wahl getroffen«, sagte sie schließlich. »Deinen Weg gewählt, Triss. Dein eigenes Schicksal. Freiwillig. Jetzt ist keine Zeit zum Bedauern.«
»Nenneke« – die Zauberin senkte den Blick –, »ich kann dir wirklich nicht mehr sagen, als ich gesagt habe. Glaub mir und verzeih mir.«
»Wer bin ich, dass ich dir verzeihen sollte? Und was hast du von meiner Verzeihung?«
»Ich sehe doch«, brach es aus Triss heraus, »wie du mich anschaust. Du und deine Priesterinnen. Ich sehe, dass ihr mir mit den Augen eine Frage stellt. Was tust du hier, Magierin? Warum bist du nicht dort, wo Iola, Eurneid, Katje, Myrrhe sind? Wo Jarre ist?«
»Du übertreibst, Triss.«
Die Zauberin schaute in die Ferne, auf den Wald, der sich hinter der Tempelmauer erhob, auf die Rauchfahnen ferner Feuerstellen. Nenneke schwieg. Auch sie war in Gedanken weit entfernt. Dort, wo die Schlacht tobte und Blut vergossen wurde. Sie dachte an die Mädchen, die sie dorthin geschickt hatte.
»Sie«, sagte Triss, »haben mir alles ausgeredet.«
Nenneke schwieg.
»Sie haben mir alles ausgeredet«, wiederholte Triss. »Sie sind so klug, so vernünftig, so logisch … Wie soll man ihnen nicht glauben, wenn sie erklären, dass es wichtige Dinge gibt und weniger wichtige, dass man die weniger wichtigen ohne Zögern aufgeben, sie ohne eine Spur von Bedauern für die wichtigen opfern muss? Dass es keinen Sinn hat, Menschen zu retten, die man kennt und liebt, weil das nur Einzelne sind und das Schicksal Einzelner bedeutungslos für die Geschicke der Welt ist? Dass es keinen Sinn hat, zur Verteidigung von Ehre, Anstand und Idealen zu kämpfen, weil das leere Begriffe sind? Dass der wahre Kampf um das Schicksal der Welt ganz woanders stattfindet, dass das Schlachtfeld woanders liegt? Ich aber fühle mich bestohlen. Bestohlen um die Möglichkeit, Dummheiten zu machen. Ich kann nicht unbedacht Ciri zu Hilfe eilen, kann nicht wie wahnsinnig loslaufen, um Geraltund Yennefer zu retten. Damit nicht genug, in dem Krieg, der im Gange ist, in dem Krieg, in den du deine Mädchen geschickt hast … In dem Krieg, zu dem Jarre davongelaufen ist, wird mir sogar die Möglichkeit verwehrt, mich auf die Anhöhe zu stellen. Mich noch einmal auf die Anhöhe zu stellen. Diesmal im Wissen um eine wirklich bewusste und richtige Entscheidung.«
»Jeder hat auf irgendeine Weise seine Entscheidung und seine Anhöhe, Triss«, sagte die Erzpriesterin leise. »Jeder. Auch du wirst deiner nicht entkommen.«
Am Eingang zum Zelt entstand Gedränge. Der nächste Verwundete wurde hereingetragen, in Begleitung etlicher Ritter. Einer, in voller Plattenrüstung, schrie, kommandierte, drängte.
»Bewegt euch, ihr Lahmärsche! Dalli! Bringt ihn hierher, hier! He, du, Feldscher!«
»Ich bin beschäftigt.« Rusty blickte nicht auf. »Bitte legt den Verwundeten auf die Trage. Ich befasse mich mit ihn, sobald ich fertig bin …«
»Du befasst dich sofort mit ihm, dummer Medikus! Denn das ist seine Durchlaucht Graf Garramone höchstselbst!«
»Dieses Spital« – Rusty hob die Stimme, wütend, weil ihm die in den Eingeweiden des Verwundeten steckende gesprungene Bolzenspitze wieder aus der Zange gerutscht war. »Dieses Spital hat sehr wenig mit Demokratie zu tun. Hier bringen sie hauptsächlich welche vom Ritter an aufwärts her. Barone, Grafen, Markgrafen und dergleichen. Um Verwundete von weniger hoher Geburt kümmert sich kaum jemand. Aber eine gewisse Gleichheit herrscht hier trotzdem. Nämlich bei mir auf dem Tisch!«
»Hä? Waas?«
»Es ist egal« – Rusty steckte Sonde und Zange abermals in die Wunde –, »ob der, dem ich gerade das Eisen aus dem Gekröse ziehe, ein Bauernlümmel ist, ein Dienstmann, alter Ritteradeloder Aristokratie. Er liegt bei mir auf dem Tisch. Und bei mir, will ich
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