Die dem Mond ins Netz gegangen - Lene Beckers zweiter Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
allem einverstanden. Unterwegs mit ihm zum Hotel spürte Lene, wie er immer stiller und beklommener wurde. Wie alle jungen Menschen hatte er wahrscheinlich Hemmungen mit Trauernden umzugehen. Aber Marion benahm sich so natürlich, wie es ihre Art war. Schloss Sebastian in die Arme und alle Schüchternheit fiel von ihm ab. Ferdinand nahm ihn mit nach oben in sein Zimmer, Marion teilte sich das Doppelzimmer jetzt mit Irene. Als die beiden Freundinnen allein waren, fiel der Schatten der Trauer wieder auf Marions Gesicht.
» Manchmal weiß ich nicht, wie ich das alles durchstehen soll. Ferdinand muss bald nach Haus, da ist etwas wegen des Geschäfts. Wenigstens für drei bis vier Tage. Ach Lene, es ist so unbegreiflich. Oft, wenn das Telefon läutet, ist mein erster Gedanke Brigitte. Das tut jedes Mal weh.«
Lene nahm sie in die Arme. Warm und vertraut fühlte sich das an. Sie versuchte zu trösten und wusste doch, dass Marion da allein durchmusste. Ebenso wie Ferdinand. Trauer war etwas unendlich Persönliches, niemand konnte wirklich helfen.
» Und Frau Schuster?«, fragte sie nach einer Weile. Wegen Ferdinand werde ich Kommissar Renaud fragen. Aber wie geht es ihr? Seid ihr euch sympathisch?«
Und Marion berichtete, dass sie fast die g anze Zeit mit ihr zusammen war. Oft lief sie mit ihr am Strand entlang und sie sprachen über ihre Mädchen. Dass das gut tat.
» Eine tapfere Frau, wenn man bedenkt, dass sie nur Marie hatte und jetzt ganz allein im Leben steht«, endete Marion.
» Tapfer wie du.«
Sie dachte in dem A ugenblick, dass ein Kind zu verlieren nichts mit der Anzahl der Kinder zu tun hatte, die man hatte. Jedes Kind besaß das Herz der Mutter – und sicher auch das des Vaters – ganz. In seiner Einmaligkeit unverwechselbar. Es würde eine immerwährende Lücke sein, nicht durch Irene zu schließen.
» Wie geht es Irene?«, fragte sie stattdessen. Marion zögerte, ihre Finger bogen, krümmten sich auf der Tischdecke. Es war, als käme sie zurückgeschwommen durch trübes, undurchsichtiges Wasser, zurück in die Gegenwart.
» Ich versuche immer mit ihr zu reden. Sie ist sehr lieb zu uns, zugleich aber verschlossen. Irgendwie. Als ob sie für sich bestimmt hätte, dass sie da allein durch muss. Weißt du, Brigitte war nicht nur ihre Schwester, sondern auch ihre engste Freundin.«
» Sag Irene, sie kann jederzeit zu uns herüberkommen. Sophie nimmt sie sicher mit an den Strand. Du weißt, dass Irene sich Vorwürfe macht, dass sie nicht eher gefahren ist und glaubt, dass dann alles nicht passiert wäre?«
» Nein, das wusste ich nicht. Wie grausam so ein Gedanke ist. Gut, dass du mir das sagst. Dann weiß ich jetzt, auf was ich bei ihr vorsichtig hinsteuern muss. Wie schrecklich - aber verstehen tue ich sie schon, mir geht es in manchen Augenblicken nicht anders. Hätte ich, hätte ich … Ich versuche dann auch immer die Vergangenheit umzuschreiben. Und weiß doch um die Sinnlosigkeit. Niemand hat Schuld, nur der Mörder. Er ist der Einzige. Manchmal hadere ich mit dem Schmuckstück, dieser Gürtelspange. Was, wenn sie die Ursache war? Das wäre dann wie ein Fluch aus der Vergangenheit. Und gäbe doch gar keinen Sinn. Zumindest für uns nicht. Ach, Lene, manchmal ist der einzige Trost, alles, was uns begegnet, als vorherbestimmt oder einer nicht sichtbaren Logik folgend zu sehen. Und dann wieder scheint es so sinnlos, so schwer. Brigittes Tod …«
Sie brach ab, holte ihr Taschentuch heraus und wischte sich über ihre Augen, bevor sie ihre Nase ausschnaubte. Dann griff sie nach Lenes Hand.
» Ich bin froh, dass du hier bist. Auch wenn du wegen der Ermittlungen wenig Zeit hast für uns – wir holen das in Nürnberg nach. Und das wenigstens war Schicksal – als du uns am Airport entgegen gekommen bist! Immer noch unglaublich!«
Dabei trat ein altbekanntes Lächeln in ihre Augen, d as Lene direkt ins Herz ging mit seiner darunter liegenden Traurigkeit.
» Und weißt du, ich bin für Irene so froh, dass Sebastian jetzt hier ist. Sie mag ihn sehr. Vielleicht kann er ihr jetzt eine Art Bruder sein.«
Lene sah in dem Moment wiede r Brigittes Tagebuch vor sich. Er ist fast wie ein Bruder . Sie nickte.
» Das hat Brigitte auch geschrieben. Auch sie hat das gefühlt. Könntest du dir vorstellen, dass er Brigitte getötet hat? Wegen des bedrohten Erbes?«
» Nein, das kann ich nicht! Wirklich nicht! Denn wenn, dann wäre Irene jetzt in Gefahr – und ich in Gefahr verrückt zu werden.
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