Die Depressionsfalle
der Bedeutung des Serotonin-Stoffwechsels auf. In der allerersten Serotonin-Hypothese, der heute nur noch historisches Interesse zukommt, wurde noch angenommen, dass die Major Depression auf einer gesteigerten Serotonin-Aktivität beruhe. Dann folgten die Annahmen, dass der Depression entweder direkt ein Defizit der serotonergen Aktivität zugrunde läge oder dass dieses Defizit ein wichtiger Wegbereiter einer besonderen Anfälligkeit für depressive Erkrankungen sei.
Diese Annahmen lagen einerseits der Entwicklung der SSRI zugrunde, andererseits schienen sie durch die Wirksamkeit der Arzneimittel dieses Typs bestätigt. Die Serotonin-Hypothesen wurden lange Zeit sowohl vonseiten der Industrie als auch vonseiten der akademischen Ãrzteschaft als Gewissheiten hingestellt, die auf scheinbar unwiderlegbaren Erkenntnissen der neurowissenschaftlichen und klinischen Forschung beruhen.
Dass aus der Formel âDie Depression ist eine Erkrankung des serotonergen Systemsâ sich der Schluss ergab: âDaher wirken Arzneimittel, die in diesem System ihre Wirksamkeit entfaltenâ, entsprach der Tradition. Neu war aber, dass sich eine Bereitschaft abzeichnete, in einem entscheidenden und paradoxen Zirkelschluss alles zur Depression zu erklären, das auf die Behandlung mit Substanzen mit serotonerger Wirkung ansprach, und man darauf aufbauend die Diagnostik veränderte, indem man neue Krankheiten schuf. Es werden seit dieser Zeit nicht mehr Arzneimittel zur Behandlung von Krankheiten entwickelt, sondern die Krankhaftigkeit eines Zustands daraus abgeleitet, dass das Arzneimittel bei ihm eine Veränderung bewirkt. Es ist möglich geworden, von âStörungen, die auf antidepressive Medikation ansprechenâ, zu reden.
Die Prozac-Ãra
All das hatte zur Folge, dass das Anwendungsspektrum der Substanzen ungemein erweitert wurde. Es blieb nicht beschränkt auf die Behandlung klinischer Depressionen. Mit den Mitteln wurden baldPatienten behandelt, die an den verschiedensten Störungen litten: an Zwangsstörungen, an Sozialphobien, an prämenstrueller Verstimmung, an Essstörungen, Sexualstörungen, Perversionen, körperdysmorphen Störungen und an generalisierten Angststörungen.
Die SSRI wurden so zu den gröÃten Blockbustern unter den Antidepressiva. Prozac und die bald nachfolgenden SSRI brachten den Erzeugerfirmen ungeheure Gewinne. Von 1987 an erzielte allein Prozac/Fluctine bis zum Ablaufen des Patents regelmäÃig die stärksten Umsatzzuwächse. Erst 2001 entstand ein Wettbewerb mit billigeren Generika, woraufhin der Umsatz einbrach. Der Erlös dieses einen, lange als paradigmatisch geltenden SSRI-Präparates, ging im Gesamtjahr 2001 um 23 Prozent und im vierten Quartal gar um 66 Prozent auf immerhin 1,9 Milliarden Dollar zurück. Wir beleuchten diese ökonomische Seite des Depressionsthemas ausführlich im Kapitel über die Pharmaindustrie.
Die Serotonin-Hypothese heute
Seit etwa 2010 werden von vielen wesentlichen Autoren alle Serotonin-Hypothesen der Depression für tot erklärt. Führende Neurowissenschafter und Medizinhistoriker sprechen sich dagegen aus, dass man komplexe Erkenntnisse der Grundlagenforschung über die komplizierten und komplexen Verhältnisse des Hirnstoffwechsels in vereinfachender und simplifizierender Weise auf die psychiatrische Klinik überträgt und damit versucht, die psychiatrische Krankheitslehre und Behandlungspraxis auf eine pseudowissenschaftliche Basis zu stellen. Dieses Umdenken zeichnete sich bereits vor ungefähr 20 Jahren ab. Michael Maes und Herbert Y. Meltzer schrieben 1995 in ihrem Beitrag zum Standardwerk
Psychopharmacology â 4th Generation of Progress
: âObwohl seit 1987 vieles über serotonergische Dysfunktion in Major Depression in Erfahrung gebracht werden konnte, scheint es heute klar, dass es keine einfache Antwort auf die Frage gibt, ob eine Veränderung der Serotoninaktivität in direktem Bezug zur Entwicklung und dem Krankheitsbild einer Major Depression steht, oder ob sie lediglich einen Faktor für die Anfälligkeit dieser Krankheit gegenüber bedeutet.â 59
Seither haben sich viele namhafte Vertreter der Neurowissenschaft zu Wort gemeldet und erklärt, dass die Forschung, die von der Serotonin-Hypothese ausgelöst wurde, keine Ergebnisse erbrachte, die bestätigen, dass eine Abnormität des Serotonin-Stoffwechsels die Basis der Depression
Weitere Kostenlose Bücher