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Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Titel: Die Deutsche - Angela Merkel und wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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kommentierte: »In jeder Küche kann beim Kuchenbacken mal etwas Backpulver danebengehen.« Und sie bezeichnete selbst die Plutoniumwirtschaft, die als gefährlichster Zweig der Atombranche gilt, als »beherrschbar«. Wie wichtigdamals eigene Überzeugungen waren und welche Rolle politische Vorgaben des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl spielten, lässt sich nicht mit Sicherheit klären. »Wir dachten erst, na ja, die plappert halt besonders stramm nach, was Parteilinie ist«, zitiert die Merkel-Biografin Evelyn Roll einen Gewährsmann aus dem Umfeld des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder. »Bis wir dann gemerkt haben: Meine Güte, da ist Überzeugung dahinter. Die Überzeugung der Naturwissenschaftlerin. Das kann richtig gefährlich werden.« Der Ministerin konnte damals gleichwohl nicht entgehen, wie tief die Ablehnung der Atomenergie in der alten Bundesrepublik reichte – auch wenn sie die langen Kämpfe um das Thema nicht von Anfang an selbst erlebt hatte.
    Die Idee, die Kräfte des Atoms für den Fortschritt nutzbar zu machen, galt ursprünglich nicht als konservativ. Nirgends wurde diese Vorstellung hymnischer gefeiert als 1959 im Godesberger Programm der SPD: »Das ist die Hoffnung unserer Zeit, dass der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann, wenn er seine täglich wachsende Macht über die Naturkräfte nur für friedliche Zwecke einsetzt.« Es waren die bodenständigen Bauern vom Kaiserstuhl, die im südbadischen Wyhl zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik den Bau eines Atomkraftwerks verhinderten. Die SPD folgte erst, als sie 1982 aus der Bundesregierung ausschied.
    Merkel hat in ihrer Zeit als Wissenschaftlerin in der DDR viel gelesen. Ob unter diesen Büchern auch RobertJungks Atomstaat war, der Klassiker der westdeutschen Protestbewegung aus dem Jahr 1977, ist nicht bekannt. Jungks Prognose, dass die Sicherheitsrisiken im Umgang mit dem Atom zu einem vollständigen Überwachungsstaat führen würden, sollte sich nicht bestätigen. Damals konnten die Polizeieinsätze, mit denen das Kraftwerksprojekt von Brokdorf oder später die geplante Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf gegen die Proteste verteidigt wurden, durchaus diesen Eindruck erwecken.
    Im Verlauf der achtziger Jahre privatisierte sich die Atomskepsis. Sie bezog sich nun nicht mehr so sehr auf die Gefahren für die Gesellschaft oder für künftige Generationen als vielmehr auf die Gesundheitsrisiken für den Einzelnen. Das Reaktorunglück von Tschernobyl, um das im Westen naturgemäß sehr viel mehr Aufhebens gemacht wurde als in der DDR, trug 1986 viel dazu bei. Wer in dieser Zeit in der Bundesrepublik zur Schule ging, erinnert sich noch lebhaft an die Mahnungen, bei Ostwind die Fenster zu schließen und im Wald keine Pilze oder Blaubeeren mehr zu sammeln. Wenn man in einer Universitätsstadt wohnte und nach der sechsten Stunde in die Mensa ging, beobachtete man auf dem Speisezettel Erstaunliches: In den Näpfen aus gestanztem Blech fanden sich plötzlich so edle Spezialitäten wie Hirschbraten oder Rehrücken, weil sie aufgrund der Becquerel-Belastung auf dem freien Markt unverkäuflich waren. Das Studentenwerk griff zu günstigen Preisen zu.
    Kinder durften in jener Zeit nicht mehr auf den Spielplatz, der Sand im Kasten galt als potenziell belastet. Was Angst machte, war vor allem der unsichtbare Charakterder Bedrohung. Ohne den Hintergrund von Tschernobyl lässt sich vermutlich auch nicht verstehen, was sich später bei der Einführung des Mobilfunks auf deutschen Dörfern abspielte: Aus Angst vor gleichfalls unsichtbarem Elektrosmog protestierten die Anwohner energisch und ausdauernd gegen die Errichtung von Sendemasten – auch wenn dies eine Bewegung war, von der man in den großen Städten fast nichts mitbekam.
    Eine deutsche Besonderheit, wie Merkel offenbar glaubt, ist die Atomskepsis allerdings nicht. Zwar werden derzeit weltweit mehr Atomkraftwerke neu gebaut als stillgelegt. Aber die Österreicher entschieden sich 1978 per Volksabstimmung, ihren fertiggestellten Meiler in Zwentendorf nicht in Betrieb zu nehmen. Acht Jahre später führte in Italien ein Referendum zur Abschaltung der vier bestehenden Kraftwerke bis zum Jahr 1990. Das Land hat damit als einziges auf der Welt bereits in Betrieb befindliche Kraftwerke wieder vollständig abgeschaltet. Nach der Jahrtausendwende folgten weitere Staaten: Belgien

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