Die Diagnose: Thriller (German Edition)
auf eine nahe Bank und beobachtete sie aus einiger Entfernung. Sie trat ans Grab, hockte sich kurz hin, um sich die Blumen anzusehen, und legte ihren Strauß dazu. Als sie sich wieder aufrichtete, betrachtete ich ihr Gesicht. Es war leer und regungslos, als wäre es ein Akt der Pflicht, oder sie wäre eine Abgesandte. Dann kam sie den Pfad wieder herunter. Ich verbarg mein Gesicht vor ihr, indem ich mich, als sie näher kam, mit meinem Handy beschäftigte, und ließ sie vorbeigehen, bis sie außer Sichtweite war.
Ich blieb noch eine Weile sitzen, um sicherzugehen, dass sonst niemand mehr kam. Die Arbeiter standen beim Grab und unterhielten sich, zwei rauchten. In der Ferne hörte ich, wie Motoren angeworfen wurden, und das Knistern von Sprechfunkgeräten – entweder die Geheimdienstleute, die sich abfahrbereit machten, oder die Fernsehteams, die die Nachricht verbreiteten. Dann ging ich quer über den Rasen. Mein Herz pochte, und mein Mund war trocken, obwohl mich niemand beobachtete. Am Grab, wo das Gras von den vielen Füßen zertreten war, bückte ich mich, um mir die Blumen anzusehen, die sie abgelegt hatte. An den Strauß war ein malvenfarbener Umschlag getackert, und ich holte die Karte heraus.
»Für Felix«, stand da. »Zum Andenken. Margaret Greene.«
Die Temperatur war in den vergangenen Tagen gestiegen, die Hitze Washingtons zog nach Norden und brachte erste Vorboten auf den nahenden feuchten Sommer. Die Nächte wurden wärmer, und an diesem Abend trat ich an ein Fenster zur Feuertreppe, die an der Seite des Wohnhauses hinunterführte. Ich hockte mich auf das Fensterbrett, schwang die Beine darüber und setzte die Füße auf den Treppenabsatz. Vom Union Square drang Sirenengeheul herauf und die Geräusche des regen nächtlichen Lebens der Stadt.
Ich hatte mir ein Glas Bourbon eingeschenkt, und als ich Eis hinzugefügt hatte, hatte ich an den letzten Abend mit Felix gedacht. Treue Diener , hatte sein Toast gelautet, doch jetzt fragte ich mich, ob er überhaupt jemandem treu gewesen war. Ich hatte ihm vertraut, genau wie alle anderen auch: Harry, Nora, Henderson und die Greenes. Angesichts von Margaret Greenes Karte hatte ich mich gefragt, ob er mir die Wahrheit gesagt hatte, selbst am Ende. Felix hatte Harry hintergangen, weil er an Henderson geglaubt hatte – oder an die Bank, die er personifizierte –, aber er hatte versucht, es wiedergutzumachen. Das hatte er mir gegenüber jedenfalls behauptet.
Sie waren alle gekommen, um sein Ableben zu würdigen. Margaret Greene hatte immerhin so viel an ihm gelegen, dass sie sich hierher hatte fahren lassen, um Blumen auf sein Grab zu legen. Alle waren bereit, ihm zu vergeben, also warum hatte er sich umgebracht? Seine Sünde kam mir nicht so schwer vor, dass sie eine solche Verzweiflungstat rechtfertigte. Die Einzige, die nicht gekommen war, war Anna. Sie hatte es Nora überlassen, selbst im Auto hierherzufahren. Auf der Fahrt mit der U-Bahn zurück nach Manhattan − Felix war so rücksichtsvoll gewesen, sich in der Nähe der Linie N beisetzen zu lassen − fiel mir die Zeile aus dem Psalm wieder ein: »Meine Seele wartet auf den Herrn von einer Morgenwache bis zur anderen.« Anna hatte ich das letzte Mal gesehen, als sie am Strand von mir fortgegangen war. Jetzt begriff ich endlich, was sie mir verheimlicht hatte.
Bislang hatte ich mir nicht die Mühe gemacht, etwas über die Greenes herauszufinden. Bei den ganzen Geschichten, die ich über sie gehört hatte, waren sie mir wie unpersönliche, feindliche Kräfte erschienen, nicht wie Menschen. Doch das hatte ich nachgeholt, als ich nach Hause zurückgekommen war und alles gelesen hatte, was die Zeitungen in der Zeit seines Todes geschrieben hatten und was ich bis dahin ignoriert hatte. Greene war kein netter Mann gewesen – die meisten, mit denen ich gesprochen hatte, hatten kaum etwas Gutes über ihn zu sagen gewusst. Bei ihm verstießen alle leicht gegen das Motto, dass man nicht schlecht über die Toten sprechen sollte. Doch abseits der Wall Street war auch er ein Mensch gewesen. Er war verheiratet und hatte eine Familie. Sie hatten zusammen Kinder großgezogen.
Mit dem Handy in der Hand kletterte ich ganz auf den Absatz der Feuerleiter und wählte Annas Nummer, dann hielt ich das Handy ans Ohr und lauschte dem Wählton. Es klingelte sechsmal, dann war die Voicemail dran. Ihre Stimme bat mich, eine Nachricht zu hinterlassen, und ich schwankte, wie es mir schien, mehrere Sekunden, obwohl es in
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