Die Diagnose: Thriller (German Edition)
über die vergangene Woche nachzudenken und mich auf die Suche nach den Anhaltspunkten zu machen, die ich übersehen hatte. Wenn Harry von Anfang an geplant hatte, Greene umzubringen, hatte er es entweder gut verborgen, oder ich war völlig inkompetent. Ich zog eine dritte Möglichkeit vor, obwohl sie auch kein gutes Licht auf mich warf − dass er nicht gewusst hatte, was in seinem Kopf vor sich ging, bis er sein Opfer konfrontiert hatte. Viel besser war das auch nicht, aber dabei würde ich mich wenigstens nicht so beschissen fühlen.
»Sie sehen gut aus. Wie sind die Haftbedingungen?«, fragte ich.
Harry schmunzelte bei der Frage, als hätte er sich im Sommerlager versteckt und nicht im Gefängnis. »Es ist nicht wie im eigenen Bett schlafen, aber ich mache das Beste daraus. Die anderen Männer auf der Etage sind okay. Ich bin viel im Fitnessraum.«
Das war eine Veränderung im Vergleich zu dem Harry auf York Ost. Dort war ihm das Bett nicht gut genug gewesen, obwohl es das beste war, das wir ihm bieten konnten, doch eine Gefängnismatratze war okay.
»Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht nach allem, was passiert ist.«
»Mir geht es gut. Um mich müssen Sie sich keine Sorgen machen.«
Dieses Gespräch wurde immer unwirklicher. Wir kehrten nicht nur die Tatsache unter den Teppich, dass Harry gerade jemanden erschossen hatte, seine Stimmung war auch völlig umgeschlagen. Ein gigantisches Gewicht schien von ihm genommen worden zu sein. Er war völlig fertig gewesen, weil er seinen Job verloren hatte, doch dass er womöglich den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen würde, schien ihm nichts auszumachen. Ich warf einen kurzen Blick auf den Beamten, doch der betrachtete durch das hohe Fenster im Raum den grauen Himmel und schien nicht zuzuhören. Trotzdem beugte ich mich vor und senkte die Stimme. Mein Atem schlug um die Löcher herum wie Nebel an das Plexiglas.
»Mr Shapiro, ich muss Sie das fragen … Haben Sie Mr Greene erschossen?«
Harry zögerte nicht und senkte auch nicht die Stimme. »Ja«, sagte er ruhig. »Ich war sauer. Ich habe die Kontrolle verloren. Er rief mich an diesem Morgen an und sagte, wir müssten über etwas reden. Ich war in der Stadt, aber er machte mich nervös, ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken. Ich habe ihm gesagt, ich würde rausfahren.«
»Was hielt Mrs Shapiro von der Idee?«
»Ich habe es Nora nicht gesagt. Ich wusste, dass sie versuchen würde, es mir auszureden. Sie haben sie so in Unruhe versetzt, dass sie mir nicht vertraut hat.«
Aus guten Gründen , dachte ich. Nora hatte mir versprochen, ein Auge auf Harry zu haben, doch sie hatte ihn entkommen und jemanden töten lassen. Ich erinnerte mich, wie ich ihr in der psychiatrischen Notaufnahme gesagt hatte, sie solle die Waffe vor Harry verstecken, und wie schockiert und bekümmert ihre Miene gewesen war. Als ich meine Bitte in East Hampton noch einmal wiederholt hatte, hatte sie mit demselben Wort geantwortet. Absolut , hatte sie mir versichert. Ich hatte ihr vertraut, doch sie hatte mich enttäuscht.
»Sie haben sich in Ihrem Haus getroffen?«
»Er hat gesagt, sie würden mir die Gulfstream wegnehmen, sie fühlten sich nicht mehr an die getroffene Vereinbarung gebunden. Washington würde Druck machen, meinte er. Es sehe nicht gut aus. Er war ein Feigling … Er wäre nicht für mich eingestanden. Ich war sauer auf ihn.«
»Und dann haben Sie ihn erschossen? Einfach so?«
Harry rieb mit der rechten Hand ein paarmal über die Tischplatte, seine Knöchel traten hervor. Als er mich ansah, war in seinen Augen kein Feuer mehr, ja nicht einmal mehr ein Glühen. Das Leben, das einst darin gewesen war, war mit Greene erloschen.
»Sie wissen, dass ich nicht normal reagiert habe. Die Pillen, die Sie mir gegeben haben, haben mir zugesetzt. Ich wusste nicht, was ich tue. Ich war verrückt.«
Ich war schockiert, wie offen er mir gerade die Schuld an der ganzen Sache in die Schuhe geschoben hatte. Er wirkte keineswegs beschämt, weil er mich an der Nase herumgeführt oder gezwungen hatte, ihn zu entlassen. Es war also alles meine Schuld, es hatte nichts mit ihm zu tun? Ich hätte am liebsten die Hände über die Plexiglasscheibe gestreckt, um ihn zu schütteln, doch sein Vollzugsbeamter stand dicht bei uns.
»Aber jetzt geht es Ihnen besser«, sagte ich, ohne meine Skepsis zu verbergen.
»Viel besser.«
Er lehnte sich zurück, und ich wusste: Das war’s. Mehr würde ich nicht aus ihm herauskriegen. Wenn ich
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