Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Jetzt sehen Sie zwei weitere Seen: den Utah-See bei Provo und den Bären-See an der Grenze zu Idaho bei Wyoming. Vergrößern Sie weiter. Plötzlich erscheinen zahlreiche Seen im Gebiet der Uinta Mountains, der Wasatchkette und des Aquarius-Plateaus. Aber diese Seen sind kleiner. Zoomen Sie weiter, und Sie finden noch mehr Seen. Aber einige von ihnen haben einen Durchmesser von etwa dreißig Metern und sind nur einen Meter oder einen halben Meter tief. Sind das noch Seen? Irgendwann müssen Sie sich mit der Frage auseinandersetzen, was ein See ist. 14
Wenn Sie Zeit haben, wiederholen Sie die Übung in Minnesota …
Fallgeschichte: Bauchaortenaneurysmen
Da Ärzte immer mehr sehen können, entdecken sie immer häufiger Anomalien, die immer weniger bedeuten. Das ist eindeutig ein Problem in der klinischen Medizin, vor allem, wenn der Ernst eines Zustandes von der Größe einer Anomalie abhängt. Bauchaortenaneurysmen sind ein klassisches Beispiel dafür.
Die Aorta ist das größte Blutgefäß im Körper. Sie versorgt den Kopf, die Arme, den Verdauungskanal, die Nieren und die Beine mit Blut. Sie hat ihren Ursprung im Herzen, verläuft im Brustkorb nach oben, macht einen Bogen nach unten in den Bauch und endet, wenn sie sich in zwei Gefäße verzweigt, die jeweils ein Bein versorgen. Der Teil im Unterleib wird Bauchaorta genannt.
Wenn ein Teil eines Blutgefäßes aus irgendeinem Grund – zum Beispiel wegen Bluthochdruck – gestreckt und geschwächt wird, kann sich eine ballonförmige Wandausbuchtung, Aneurysma genannt, bilden. Reißt ein solches Aneurysma in der Bauchaorta, können ein erheblicher Blutverlust und ein plötzlicher Tod die Folge sein. Die Wahrscheinlichkeit dafür hängt unmittelbar von der Größe des Aneurysmas ab. Ein großes Aneurysma reißt leichter als ein kleines. Deshalb sollten Ärzte ein großes Aneurysma auf jeden Fall behandeln. Ob sich die Behandlung kleinerer Aneurysmen lohnt, ist ungewiss.
Früher wurden Bauchaortenaneurysmen vor allem durch Abtasten entdeckt – die Ärzte untersuchten den Unterleib der Patienten mit den Händen. Unter den günstigsten Bedingungen kann ein Arzt ein Aneurysma ertasten, das einen Durchmesser von nur fünf Zentimetern hat. Die Erfolgsquote variiert natürlich: Wenn Ärzte angewiesen werden, eine körperliche Untersuchung vorzunehmen und dabei nach einem Aneurysma Ausschau zu halten, entdecken sie es mit viel größerer Wahrscheinlichkeit, als wenn sie nicht danach suchen. Bei einer Routineuntersuchung muss die Anomalie auffälliger sein, damit sie ertastet wird. Heute werden allerdings die meisten Bauchaortenaneurysmen durch eine Ultraschalluntersuchung oder eine CT entdeckt, weil diese Schichtbilder Strukturen zeigen, die viel kleiner sind als drei Zentimeter (das ist der Durchmesser einer normalen Aorta). Ein Unterschied von zwei Zentimetern mag sich gering anhören, aber er ist bedeutsam.
Eine klassische Studie mit 201 Männern im Alter zwischen sechzig und fünfundsiebzig Jahren belegte, wie stark Ultraschalluntersuchungen sich auf die bekannte Zahl von Aneurysmen auswirken. 15 Die Teilnehmer litten an Bluthochdruck und/oder Herzkrankheiten, gehörten also zu der Bevölkerungsgruppe, bei der Aneurysmen am häufigsten vorkommen. Bei körperlichen Untersuchungen wurden in dieser Gruppe fünf Aneurysmen gefunden, eine Ultraschalluntersuchung enthüllte achtzehn. Mit anderen Worten: In derselben Gruppe stieg die Zahl der Bauchaortenaneurysmen nach der Ultraschalluntersuchung um mehr als das Dreifache.
Abbildung 3.2 Zahl und Größe von Bauchaortenaneurysmen, die in derselben Gruppe von Männern gefunden wurden. Angewandt wurden zwei Methoden: körperliche Untersuchung und Ultraschall
Abbildung 3.2 zeigt das Ergebnis der Studie. Die meisten Aneurysmen, die bei einer körperlichen Untersuchung entdeckt wurden, waren relativ groß; deshalb war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie reißen würden. Natürlich entdeckt man solche Aneurysmen auch auf einem Ultraschallbild (Sonogramm) – aber man findet dort auch viele kleine Aneurysmen, bei denen die Gefahr einer Ruptur gering ist. Von den dreizehn Aneurysmen, die nur durch Ultraschalldiagnostik feststellbar waren, war eines groß (5 Zentimeter oder größer), vier waren mittelgroß (4 bis 5 Zentimeter), und acht waren klein (3,6 bis 4 Zentimeter). Für den Kliniker, der seine Patienten abtastet, hatten 2,5 Prozent dieser älteren Männer mit Bluthochdruck – die einer Hochrisikogruppe angehörten
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