Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
– ein Aneurysma, und die meisten Aneurysmen waren größer als 5 Zentimeter. Für den Facharzt, der mit Ultraschall untersuchte, ergab sich ein anderes Bild: In derselben Gruppe hatten 9 Prozent der Männer ein Aneurysma, und die meisten Aneurysmen waren kleiner als vier Zentimeter.
Die Auswirkungen der Ultraschalluntersuchung (und in geringerem Umfang der CT) auf das Vorkommen und die Größe von Bauchaortenaneurysmen erklären, warum die Zahl der Aneurysmen, die in der Mayo-Klinik in Rochester, Minnesota, gezählt wurden, zwischen 1950 und 1980 um das Siebenfache stieg. Am stärksten stieg die Zahl der kleineren Aneurysmen: um mehr als das Zehnfache. 16 Etwa zweihunderttausend Amerikaner werden jedes Jahr mit Bauchaortenaneurysmen diagnostiziert, und fast alle Aneurysmen – rund 90 Prozent – erreichen nicht die Größe, ab der eine Operation empfohlen wird. 17 Wenn wir moderne bildgebende Verfahren häufiger benutzen, finden wir also mehr Anomalien – aber kleinere. Die neu identifizierten Patienten gehören zu der Gruppe, bei der das Risiko für Komplikationen am geringsten und das Risiko für Überdiagnosen am höchsten ist.
Von der klassischen Diagnose zum Scannen
Dieses Prinzip gilt weit über Bauchaortenaneurysmen hinaus. Der Wechsel von der klinischen Untersuchung (Informationen aus der Krankengeschichte, Symptome und körperliche Untersuchung) zur Diagnosetechnik hat sich in verschiedenen Studien als sehr folgenreich erwiesen. Nehmen wir die Diagnose tiefer Venenthrombosen (Blutgerinnsel in den Beinvenen) als Beispiel. Diese Thrombosen kommen bei Menschen vor, die sich aus irgendwelchen Gründen wenig bewegen. Betroffen sind meist gebrechliche ältere Menschen, manchmal auch jüngere, die längere Zeit sitzen (zum Beispiel während eines Fluges nach Australien) oder wegen einer Verletzung im Bett liegen.
Große Blutgerinnsel führen zu geschwollenen, schmerzenden Beinen, kleine Gerinnsel lösen bisweilen weder Schmerzen noch Schwellungen aus. Studien mit Menschen, die bei Unfällen verletzt wurden, belegen, dass sich bei diesen Traumapatienten nur sehr selten große Gerinnsel bilden, die geschwollene, schmerzende Beine hervorrufen. Das gilt für klinische Untersuchungen. Werden Traumapatienten jedoch mit Duplex-Sonografie untersucht, findet man bei mehr als der Hälfte von ihnen Gerinnsel, wenn auch kleine. 18 Seitdem wir Ultraschalluntersuchungen haben, ist das durchschnittliche Blutgerinnsel viel kleiner und viel weniger wichtig geworden.
Die schlimmste Folge einer tiefen Venenthrombose ist eine Lungenembolie: Ein Blutgerinnsel wird von einer Beinvene weggerissen, wandert zum Herzen und verstopft dann eine Lungenarterie. Infolgedessen gelangt zu wenig Sauerstoff ins Blut, und der Blutdruck sinkt drastisch. Das kann sogar zum Tod führen. (So erging es David Bloom, einem jungen NBC-Korrespondenten, der die amerikanischen Truppen beim Einmarsch in den Irak begleitete. Er war viele Stunden lang in einem Panzer gefahren.) Wie Sie sich denken können, beeinflussen bildgebende Verfahren auch die Zahl der festgestellten Lungenembolien. Relativ wenige Patienten mit Blutgerinnseln in den Beinen haben Atemprobleme, und bei klinischen Untersuchungen werden nur wenige Lungenembolien entdeckt. Aber mithilfe eines Ventilations-Perfusions-Scanners (damit werden Belüftung und Durchblutung der Lungen gemessen) findet man bei über 50 Prozent der Patienten mit Blutgerinnseln in den Beinen auch kleine Gerinnsel in den Lungen. 19 Auch hier gilt: Wenn wir Scanner verwenden, wird das durchschnittliche Blutgerinnsel in den Lungen viel kleiner und viel weniger wichtig.
Die Einführung neuer bildgebender Verfahren mit hoher Auflösung hat die Zahl der diagnostizierten Lungenembolien weiter vergrößert. Die Ventilations-Perfusions-Diagnostik wurde durch die Spiral-CT ersetzt. Diese entdeckt ein Drittel mehr Gerinnsel in den Lungen von Patienten mit Blutgerinnseln in den Beinen. 20 Die Folgen der vermehrten Nutzung der Spiral-CT waren dramatisch: In weniger als fünf Jahren stieg die Zahl der Menschen, bei denen in Pennsylvania eine Lungenembolie diagnostiziert wurde, um 34 Prozent. 21 Die durchschnittliche Lungenembolie ist heute also noch geringfügiger und weniger wichtig als vor fünf Jahren.
Tabelle 3.1 fasst die Zahlen aus diesen Studien über Aneurysmen und Blutgerinnsel zusammen.
Tabelle 3.1 Folgen des Einsatzes diagnostischer Techniken auf die Zahl der festgestellten
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