Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
neulich sogar ihre Empfehlungen, um diese Einschätzung zu bekräftigen. Sie erklärte: »Da Prostatakrebs langsam wächst, sollte Männern ohne Prostatakrebssymptome, die die nächsten zehn Jahre voraussichtlich nicht überleben werden, keine Vorsorgeuntersuchung angeboten werden, weil sie davon wahrscheinlich nicht profitieren.« 18
Vielleicht haben Sie jetzt viele Fragen zu Isaacs Schicksal. Was wäre geschehen, wenn man bei ihm nur sechs Biopsien gemacht hätte anstatt zehn? Wäre dann kein Prostatakrebs diagnostiziert worden? Was wäre geschehen, wenn er die alte Regel befolgt und mit der Biopsie gewartet hätte, bis sein PSA-Wert auf über 4 gestiegen wäre? Wäre sein Krebs ebenso gut behandelbar gewesen, wenn die Diagnose später gestellt worden wäre? Oder wäre sein PSA-Wert nie über 4 gestiegen, und es hätte nie eine Biopsie gegeben? Niemand kennt die Antworten auf diese Fragen. Aber Sie könnten eine noch wichtigere Frage stellen: Hätte er seinen PSA-Spiegel überhaupt messen lassen sollen?
Tatsache ist, dass wir damals, als Isaac sich der Biopsie unterzog, nicht wussten, ob die PSA-Messung jemals einem Mann genützt hatte. Alle warteten auf die Ergebnisse zweier großer randomisierter Studien. Im Frühjahr 2009 wurden beide veröffentlicht, eine in den Vereinigten Staaten, 19 die andere in Europa. 20 Sie waren das Resultat eines enormen Forschungsaufwands. Fast zwanzig Jahre lang waren mehr als eine Viertelmillion Männer beobachtet worden, und die Kosten beliefen sich auf viele Millionen Dollar. Dennoch wissen wir noch nicht genau, ob der PSA-Test Leben rettet. Die europäische Studie sagt ja, die amerikanische nein. Die amerikanischen Daten werfen sogar die Frage auf, ob wir mit weniger Tests Leben retten könnten. Die europäische Studie stellt fest, dass der Test die Prostatakrebssterblichkeit um 20 Prozent senkte. Statistisch gesehen ist das kein Zufallsergebnis; aber es kommt ihm sehr nahe. Der amerikanischen Studie zufolge steigerte der Test die Sterberate bei Prostatakrebs um 13 Prozent. Das ist nach den Regeln der Statistik ein Zufallsbefund. Dennoch ist die Sorge berechtigt, dass die Vorsorgeuntersuchung das Gegenteil dessen bewirkt, was wir anstreben. 21 Die Ungewissheit bleibt also, trotz zweier Studien mit über einer Viertelmillion Teilnehmern.
Das bedeutet: Wenn die Vorsorgeuntersuchung überhaupt einen Nutzen hat, dann ist er zweifellos gering. Im Gegensatz dazu konnten Wissenschaftler in den sechziger Jahren im Auftrag der Veteranenbehörde überzeugend nachweisen, dass es sich lohnte, einen sehr hohen Blutdruck zu behandeln. Dafür mussten sie nur etwa hundertfünfzig Männer zwei Jahre lang beobachten. Nehmen wir einmal an, die europäische Studie hat recht. Ihre Daten vermitteln eine Vorstellung davon, wie vielen Menschen die Früherkennung das Leben rettete und wie viele bestenfalls einer Überdiagnose zum Opfer fielen: Jedem Mann, der vor dem Tod durch Prostatakrebs gerettet wird, stehen rund fünfzig gegenüber, bei denen Überdiagnosen vorliegen und die unnötig behandelt werden. Einige meiner Kollegen wenden vielleicht ein, die tatsächliche Zahl liege eher bei dreißig; aber andere meinen, dass sie eher bei hundert liegt. 22
Zum Glück ist die Zahl der Todesfälle wegen Prostatakrebs fast auf 30 Prozent gesunken, seitdem der PSA-Test eingeführt wurde. Aber es ist schwer festzustellen, warum sie sinkt. Im Gegensatz zur Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung haben randomisierte Studien eindeutig bewiesen, dass eine Behandlung des Prostatakarzinoms die Sterblichkeit senkt. 23 Deshalb ist dieser Erfolg zu einem großen Teil auf die Therapie zurückzuführen, nicht auf die Früherkennung.
Es ist einfach nicht möglich, die Vor- und Nachteile der Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung zu quantifizieren. Und es ist problematisch, die geringere Sterberate gegen die Überdiagnosen abzuwägen, wenn unsicher ist, ob es überhaupt einen Nutzen gibt. Ich glaube, die Vorsorgeuntersuchung hat einen kleinen Nutzen, aber ich weiß auch, dass es viele Überdiagnosen gibt. Meiner Einschätzung nach zeigen die Daten, dass auf jeden Mann, der vor dem Tod durch Prostatakrebs bewahrt wird, dreißig bis hundert Männer kommen, die einer Überdiagnose zum Opfer fallen und unnötig behandelt werden. Aber es ist nicht wichtig, was ich denke; wichtig ist, was Sie denken.
Die Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung ist für das Problem der Überdiagnose bei Krebs zum Paradebeispiel geworden. Wir wissen
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