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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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Reservoir unentdeckter Schilddrüsenkarzinome in der Bevölkerung. Pathologen in Finnland haben bei 101 aufeinanderfolgenden Autopsien die Schilddrüsen alter Patienten untersucht, die im Krankenhaus gestorben waren. Sie entnahmen etwa alle zwei Millimeter eine Scheibe aus Schilddrüsengewebe. 3 Und sie entdeckten eine Menge Karzinome. Mehr als ein Drittel der obduzierten Patienten hatte Schilddrüsenkrebs. Da viele dieser Karzinome kleiner als zwei Millimeter waren – so dick wie die entnommenen Scheiben –, wussten die Forscher, dass ihnen sogar einige Karzinome entgangen waren. Aufgrund der Zahl kleiner Karzinome, die sie fanden, und der Zahl derer, die sie wahrscheinlich übersehen hatten (dabei war die Größe entscheidend 4 ), zogen die Wissenschaftler den Schluss, dass sie bei fast jedem Menschen Anzeichen für Schilddrüsenkrebs finden würden, wenn sie gründlich genug danach suchten. Ihrer Meinung nach waren die kleinsten Schilddrüsenkarzinome so weit verbreitet, dass man sie als normalen Befund betrachten sollte.
    Wir sind gerade dabei, dieses Reservoir anzuzapfen. Obwohl nur wenige Leute eine Vorsorguntersuchung auf Schilddrüsenkrebs empfehlen (die amerikanische Preventive Services Task Force, das unabhängige Expertengremium, das Vorsorgeuntersuchungen bewertet, riet 1996 sogar davon ab 5 ), halten die Ärzte offenbar häufiger Ausschau nach Knoten im Hals, oder sie entdecken sie zufällig auf CT-Schichtaufnahmen; dann ordnen sie weitere Ultraschalluntersuchungen des Halses an (im letzten Jahrzehnt viermal so oft 6 ) und nehmen mehr Nadelbiopsien vor. Das Ergebnis ist vorhersehbar, wie Abbildung 5.1 zeigt. Wie alle nationalen Krebsdaten in diesem Buch stammen auch diese Zahlen aus dem SEER, dem amerikanischen Krebsregister. Die Grafik zeigt deutlich, dass die Zahl der entdeckten Schilddrüsenkarzinome drastisch gestiegen ist.
    Andererseits ist die Sterberate für den Schilddüsenkrebs absolut stabil. Sie ist sogar die stabilste Sterberate aller Krebsarten, die das SEER erfasst.
    Dieses Muster sollte uns inzwischen vertraut sein: Es ist genau das Muster, das stark auf Überdiagnosen hindeutet. Dafür gibt es weitere Anzeichen, die in der Abbildung nicht sichtbar sind: Die meisten neuen Diagnosen betreffen kleine Schilddrüsenkarzinome, und bei allen handelt es sich um papillären Schilddrüsenkrebs, der am wenigsten aggressiv ist. 7
    Die Angelegenheit erscheint einfacher als beim Prostatakrebs. Beim Prostatakrebs ist die Sterblichkeit ein wenig gestiegen und dann ein wenig gefallen. Der Test, der für die Überdiagnosen verantwortlich ist, könnte auch den Rückgang der Sterblichkeit teilweise erklären. Beim Prostatakrebs sind die Nachteile also mit potenziellen Vorteilen verbunden. Hier haben wir nur Nachteile – viele Überdiagnosen und keine Veränderung der Sterblichkeit. Die Ärzte werden mehr Menschen behandeln und mehr Schilddrüsen chirurgisch entfernen. Aber die Operation kann Schaden anrichten. Vor allem besteht die Gefahr einer Schädigung des rückläufigen Kehlkopfnervs (Nervus laryngeus inferior) im Hals (die Folgen sind Heiserkeit, eine schwache Stimme, Schluckbeschwerden) oder der Nebenschilddrüsen (ein gestörter Kalziumstoffwechsel wäre die Folge). Außerdem muss jeder, dem die Schilddrüse entfernt wurde, sein Leben lang Medikamente einnehmen, um zu ersetzen, was er verloren hat, nämlich die Fähigkeit, Schilddrüsenhormone zu bilden.
    Ein Nutzen ist nicht zu erkennen.

    Abbildung 5.1 Neue Diagnosen und Todesfälle durch Schilddrüsenkrebs in den Vereinigten Staaten von 1975 bis 2005
Melanome
    Die meisten Hautkarzinome sind keine Melanome. Darum werden sie im Englischen sogar negativ definiert: non-melanoma skin cancers . Dieser »weiße Hautkrebs« bildet fast nie Metastasen und führt fast nie zum Tod. Manche Ärzte stellen sogar die Frage, ob man ihn überhaupt als Krebs bezeichnen soll. Obwohl der weiße Hautkrebs bei Weitem die häufigste Anomalie ist, die Krebs genannt wird, führen ihn Krebsregister (zum Beispiel das SEER) nicht einmal auf, weil seine gesundheitlichen Auswirkungen relativ gering sind.
    Das bösartige, das maligne Melanom (»schwarzer Hautkrebs«) ist die gefürchtete Form des Hautkrebses. Es bildet Metastasen und tötet Menschen – in den Vereinigten Staaten rund 8400 im Jahr. Doch wie beim Schilddrüsenkrebs ist die Zahl der diagnostizierten Melanome, rund 116 000 jährlich, viel höher als die Zahl der Menschen, die daran sterben. Und wie beim

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