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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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Schilddrüsenkrebs müssen Sie angesichts dieser großen Diskrepanz die Frage stellen: Ist die Therapie so erfolgreich, oder müssen viele der diagnostizierten Melanome nicht behandelt werden?
    Das Reservoir potenzieller Melanome ist groß. Ich behaupte das nicht wegen der Autopsiestudien. Man muss keine Leichen öffnen, um dieses Potenzial zu erkennen. Nein, ich stütze mich auf eine einfache Beobachtung: Viele Menschen haben Leberflecken. Manche haben mehr als andere, aber fast alle haben welche. Zwar sind manche Leberflecken mit viel größerer Wahrscheinlichkeit Melanome – zum Beispiel ein großer Leberfleck, der wächst und unregelmäßige Ränder und verschiedene Farben aufweist –, aber jeder Leberfleck könnte ein Melanom sein. Melanome entwickeln sich aber nicht immer aus Leberflecken. Sie können auch an anderen Hautstellen entstehen, bisweilen sogar in anderen Organen (zum Beispiel in den Augen und im Darm). Und wie bei anderen Krebsarten wird die Diagnose »metastatisches Melanom« manchmal gestellt, obwohl kein Entstehungsort erkennbar ist.
    Seit einigen Jahren achten die Öffentlichkeit und die Hausärzte viel häufiger auf Melanome. Vielleicht haben Sie von den »Melanoma Mondays« in den USA gehört, die Menschen ermuntern sollen, ihre Haut untersuchen zu lassen. Alles zusammen führt zu einem Problem, das für Hautärzte äußerst frustrierend ist. Für sie gibt es keine wichtigere Diagnose als »Melanom«. Da jedoch fast alle Menschen Leberflecken haben, aus denen Melanome werden könnten, landen jedes Jahr mehr Menschen in den Praxen der Dermatologen. Deshalb ist es für die Ärzte immer schwieriger, Patienten mit symptomatischen Hautkrankheiten zu versorgen, die kein Krebs sind. Aber die Dermatologen wollen kein potenziell tödliches Melanom übersehen. Also machen sie mehr Biopsien.
    Vor einigen Jahren studierten meine Koautoren und ich die Häufigkeit von Hautbiopsien bei Menschen, die Medicare (Gesundheitsfürsorge für Ältere) in Anspruch nehmen. 8 Wir stellten fest, dass die Zahl der Biopsien in dieser Bevölkerungsgruppe innerhalb von fünfzehn Jahren (von 1986 bis 2001) um das Zweieinhalbfache gestiegen ist (von 2847 auf 7222 je 100 000 Patienten). Es überrascht nicht, dass die Zahl der Melanomdiagnosen bei derselben Gruppe im gleichen Zeitraum fast ebenso stark zunahm, nämlich um das 2,4-Fache. Abbildung 5.2 stellt die Entwicklung in den Vereinigten Staaten in den letzten dreißig Jahren dar.
    Wie Sie sehen, stehen wir weniger vor einer Melanomepidemie als vor einer Diagnosenepidemie. Und erneut gibt es weitere Hinweise auf Überdiagnosen, die diese Grafik nicht zeigt: Die meisten neu diagnostizierten Melanome sind klein und sehr dünn. Bei ihnen ist die Gefahr der Metastasenbildung am geringsten.
    Zugegeben, auch die Dermatologen haben dieses Problem erkannt. Vor mehr als zehn Jahren begannen einige von ihnen zu begreifen, dass die Zunahme der Diagnosen im Wesentlichen nicht auf eine Melanomepidemie hinwies. 9 Aber sie sitzen in der Falle. Mehrere Kräfte – die Furcht vor Schadensersatzansprüchen, die Angst der Patienten, finanzielle Anreize – drängen sie, mehr Biopsien vorzunehmen. Wenn sie ein Melanom übersehen, drohen ihnen schwere Sanktionen; aber es gibt keine entsprechenden Sanktionen für Überdiagnosen.

    Abbildung 5.2 Neue Diagnosen und Todesfälle durch Melanome in den Vereinigten Staaten von 1975 bis 2005
    Natürlich sollten wir keinen Patienten unnötig behandeln. Was Melanome anbelangt, war ich allerdings immer der Meinung, dass die Therapie relativ harmlos ist. Meist wird nur ein größeres Stück Haut entfernt. Dieser Eingriff ist weniger schädlich als die Entfernung der Schilddrüse, der Prostata oder der Brust. Aber ein Dermatologe, den ich kenne, klärte mich darüber auf, dass die Operation manchmal umfangreicher ist, vor allem im Gesicht, und mit Hauttransplantationen einhergeht. Er machte mich darauf aufmerksam, dass die folgende Überwachung – die Suche nach einem zweiten Melanom bei Patienten, die bereits eines hatten – manchen große Angst einjagt. Als ich ein anderes Mal die Meinung vertrat, das Problem der Überdiagnose habe bei Melanomen geringere Folgen, widersprach mir eine junge Frau. Sie berichtete, bei ihr sei ein Melanom diagnostiziert worden, und das habe sofort eine verheerende Folge gehabt: Sie bekam keine Krankenversicherung mehr. Die Diagnose »Krebs« zählt zu den Vorerkrankungen, die es Betroffenen in Amerika sehr schwer machen,

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